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Isemarkt
Text: Stevan Paul | Fotos: Julia Schwendner
KENNEN SIE DEN ISEMARKT?
Doofe Frage, hätte ich geantwortet. Jedenfalls vor der Pandemie. Vor über 25 Jahren zog ich vom Bodensee nach Hamburg, an einem Donnerstagabend parkte ich den Leihtransporter vor einer günstigen Mietwohnung in Billstedt, Freitagfrüh stand ich auf dem Isemarkt. Für den jungen Koch aus Süddeutschland war dieser Markt ein Wallfahrtsort, eine kulinarische Schatzkammer, wie der Viktualienmarkt, der Wiener Naschmarkt, die Boqueria in Barcelona, der Mercado Municipal in São Paulo. All diese Orte habe ich gesehen. Der Isemarkt ist mir Heimat geworden, und er gehört bis heute in den Reigen der schönsten Märkte der Welt. Ein Vierteljahrhundert später lebe ich in fußläufiger Nähe und hätte behauptet: Ich kenne den Isemarkt. Dann kam Corona und änderte vieles. Auch den Blick auf meinen Nachbarschaftsmarkt, der mir zur Selbstverständlichkeit geworden war. Oft achtlos und eilig durchschritten, meist früh am Morgen in Hektik, weil beruflich unterwegs: Ich bin (auch) Kochbuchautor, Rezeptentwickler und Foodstylist in Fotostudios, meine Modelle finde ich auf dem Isemarkt.
HAMBURGISCHE FREUNDLICHKEIT UND NORDISCHER HUMOR
Als die Pandemie im März vergangenen Jahres die Welt ausbremste, fand ich mich in der ungewohnten Rolle eines Flaneurs auf der Isestraße wieder. Mein Auftrag belief sich nur noch auf private Einkäufe, Bummelei und Schlendrian waren meine neuen Begleiter. Glücklich, der Drängelei in den Supermärkten entkommen zu sein, entdeckte ich den Isemarkt neu. Plötzlich war Zeit, auch für Gespräche, und ich lernte, dass es auch die kleinen Klönschnacks sind, die den Zauber des Isemarkts ausmachen – ein gewachsenes Miteinander von Händlern und Kunden, das gepflegt werden will. Ich entdeckte den Dorfplatz in der Großstadt, jedes Schwätzchen macht den Unterschied, jeder Plausch ist ein Vorschuss auf den nächsten Handel. Die Konkurrenz ist groß und Kundenbindung das Zahlungsmittel, dazu gehört der Schnack mit nordisch trockenem Humor, die hamburgische Freundlichkeit, die nie verbrüdert, aber immer von Herzen kommt. Seit ich zum Spaziergänger geworden bin, höre ich gern zu, etwa wenn die ältere Dame vor mir am Käsestand von ihrem Recht als Stammkundin Gebrauch macht, wirklich eingehend beraten zu werden: „… und dann hätte ich gern noch ein Stück Käse, der mich überrascht!“ Und während der wackere Verkäufer seine Auslage nach Antworten absucht, fällt der Dame noch was ein: „Und ein Stück von einem Käse, der morgen, also morgen Abend, seinen perfekten Reifegrad erreicht haben wird!“ Ca. 800 Meter lang ist der Isemarkt, der 1949 mit 40 Ständen Premiere feierte. Heute sind es an Spitzentagen über 200 Händler*innen, die ihre Stände, Büdchen und Verkaufswagen unter dem Viadukt der Hochbahn aufschlagen, immer dienstags und freitags geht es früh los. Zuerst kommen aber, noch mitten in der Nacht, die Abschleppwagen, werfen ihr orangefarbenes Warnlicht an die Wände der Gründerzeithäuser entlang der Isestraße und machen ihre Arbeit. Jedes Mal ein Drama, für Ortsfremde und Vergessliche. Dann kommen die Händler aus dem Hamburger Umland, aus dem Alten Land, aus Dithmarschen, von der Küste … und die ersten Marktgänger, die entschlossen durch die klare Morgenluft schreiten, lange bevor auch die Touristen kommen und die Nachbarschaft erwacht. Gegen 14 Uhr trüffeln noch die Schnäppchenjäger, dann werden um die 6000 Menschen den Markt besucht haben. Europas längster überdachter Markt schlängelt sich durch Harvestehude und Hoheluft-West und verbindet noch zwei weitere Stadtteile. Einerseits bilden Hoheluft-West und Eimsbüttel ein entspanntes Quartier, in dem neben den Ureinwohnern vor allem Menschen leben, die mal auf St. Pauli tanzten und im Schanzenviertel wohnten, bevor die Kinder kamen. Am anderen Ende des Markts liegt andererseits das feine Eppendorf, geprägt von entspannter Eleganz und beiläufigem Markenbewusstsein. Auf dem Isemarkt mischen sich Lebensentwürfe, geeint von der Wertschätzung für echte Produkte und Regionalität, der Suche nach dem „richtigen Leben“. Jede Kaufentscheidung ist ein Statement für die Welt, in der wir künftig leben wollen, und wer hier kauft (und es sich finanziell leisten mag), hat sich entschieden: für Natur und Diversität, für die Farm-to-Table-Idee. Bei den einen ist der Markt mit seinen Preisen als „Apotheke“ verschrien, bei den anderen zählen Qualität, Geschmack und ökologische Landwirtschaft – bevor Agrar-Lobbyismus und Handelsriesen alles runtergewirtschaftet haben, was uns mal lieb und teuer war. Und beides hat nun mal seinen Preis. Der Isemarkt ist da auch politisch. Ein bisschen jedenfalls. Wer einmal, ganz unpolitisch, sonntags zum Frühstücksei, frische Krabben von Friedrichskoog (Höhe Isestraße Nr. 35) und ein zartes Stück geräucherte Bachforelle von Hermann Benecke (Nr. 7) probierte, ist für Lachs vom Discounter eh verloren.
VIELFALT IN DER NISCHE
Der Isemarkt ist ein Genuss-Boulevard, der sich in Gänze nur dem erschließt, der sich treiben lässt. Die Entdeckungen sind die Stände zwischen den Ständen, die man sowieso immer besucht. Ich mache mir zum Beispiel nichts aus Keksen. Bis ich Jens Heimlich kennenlerne, dessen Kekse so unheimlich gut sind, dass der Begriff Stammkunde meine Sucht nur unzureichend beschreibt. Über 50 Sorten handgearbeiteter Kekse hat der gebürtige Sachse im Programm (Nr. 58), buttrig und von unwiderstehlich samtiger Zartheit. Dass Heimlich zur Winterzeit Hausmacher-Christstollen nach sächsischer Tradition auch in Scheiben verkauft, verrate ich an dieser Stelle nicht! Spezialisierung ist Trumpf auf dem Isemarkt, denn die Konkurrenz ist groß. Darum hat man sich, wie erwähnt, auf Kundenfreundlichkeit spezialisiert – oder auf die Warengruppe. „Pilzmann“ Tarik Baltaci (Nr. 29) vereint beides und kennt jedes Männlein, das im Walde steht. Sein Angebot an Pilzen auf kleinster Fläche ist in Deutschland einmalig. Schon mal Igelstachelbart gebraten oder Krause Glucke? Baltaci kennt auch die Rezepte zu seinen seltenen Schwammerln und erläutert gern alles, auch dass z. B. die Zubereitung von Herbstrompeten keinerlei musikalischer Vorbildung bedarf. Nur zu Details über die Standorte seiner Spezialitäten schweigt Baltaci, nicht ohne einem noch ein verschmitztes Lächeln mit auf den Weg zu geben. Die Vielfalt in der Nische aufzuzeigen, ist auch Malte Jahns Geschäft, der sich auf Schnittkräuter, Würz- und Pflücksalate spezialisiert hat. Jahn war mal Tierpfleger, Tiger-Dompteur und Star der Dschungelnächte bei Hagenbeck, bevor er den Gärtnerbetrieb des Großvaters übernahm. Heute sind Kräuter- Malte (Nr. 26) und sein auffallend adrett gekleidetes Team die Dompteure der Schlange vor dem Stand. Alle wollen die üppig gebundenen Kräuter, die Geschmacksoffensive gegen langweilige Salate mit Gewächsen wie Mizuna, Eiskraut und Shiso, Passe-Pierre-Algen und Wildbrokkoli. Über 60 Kräuter, Microgreens und Salate sind es insgesamt, sie stammen aus Vierlanden und aus aller Welt. Auch für meine Arbeit als Rezeptentwickler kaufe ich gern bei Malte, Obst und Gemüse hole ich traditionell beim Obsthof Mojen (gegenüber Nr. 9). Ich mag das freundliche und aufmerksame Team, das Angebot ist geradezu liebevoll drapiert, alles sieht zum Anbeißen aus. Hier finde ich auch bildschönes Charakter- Gemüse, das abseits der Supermarktnorm wachsen durfte, wie von der Natur gedacht: klein, groß, krumm und eigen. Händler Artur Fischer kennt seine Kunden, und er kennt sich aus: Als ich mal wieder allzu beharrlich auf handverlesene Ware bestand, nur diese drei Möhren und nur jene Bete, ganz unten links – verlor Fischer nicht die Contenance, sondern schloss messerscharf: „Ah, Foodstylist!“ und bot direkt an, mich noch durch das Artischocken-Sortiment zu führen.
FÜR FOODSTYLISTEN IST DER ISEMARKT EIN SEGEN. DAS VERDANKT ER AUCH SEINEN ENGAGIERTEN HÄNDLERN
Im vergangenen Winter, zur allerschönsten Karpfenzeit, war ich beruflich auf der Suche nach einem Karpfen für ein Rezept- Shooting. Am Donnerstag kümmerte ich mich um die Fischbestellung für den nächsten Tag. Ich rief zwölf (!) Hamburger Fischhändler an, niemand heuchelte auch nur Interesse an meiner Bestellung: „Nö.“ „Ham wir nicht.“ Der Teich-Fisch schien wenig gefragt. In höchster Not fiel mir der Wagen auf dem Isemarkt ein, an dem ich privat kaufe, stets begeistert von der herausragenden Qualität und Frische: Fischfeinkost Kalinowski (Nr. 4). Ich recherchierte die Telefonnummer und hatte direkt die Chefin am Apparat, die versprach (es war 15.00 Uhr!) alle Hebel in Bewegung zu setzen – für den ihr gänzlich unbekannten Anrufer. Anderntags konnte ich meinen Karpfen abholen Zweimal im Jahr beginnt mein Isemarkt-Besuch bei Messerschleifer Christian Stobbe. Die Schleifkutsche des gelernten Werkzeugmachers parkt in Höhe Nr. 15, und je nach Betriebsaufkommen und Stückzahl macht „Macky Messer“ sich direkt ans Werk, während man entspannt den Markteinkauf erledigt. Die abschließende Überprüfung seiner Arbeit bei Abholung ist eine Vorführung am Papierbogen, auf die ich mich immer freue.
REGIONALITÄT IST NUR EINE FRAGE DES STANDPUNKTES
Das ist auch etwas, was einem der Isemarkt schenken kann: ein Gefühl für Saisonalität, das gerade wir Großstädter verloren haben, weil wir uns an den Anblick von Alljahres-Himbeeren im Supermarkt gewöhnt haben, an Spargel aus Chile zu Nikolaus. Auf dem Isemarkt finden sich die verlorenen Jahreszeiten wieder: ein Fest, wenn der heimische Spargel kommt, wenn im Sommer die Freilandtomaten schmecken. Wenn im Winter der Grünkohl den ersten Frost erlebt und Schwarzwurzeln aus der Erde gezogen werden. Wer wieder Jahreszeiten schmecken und Produkte zur Hochzeit ihrer Reife genießen möchte, der findet hier grandiose Qualität! Auf dem Isemarkt ist aber auch die Welt zu Hause, und Regionalität ist manchmal schlicht eine Frage des Standpunktes: Der cremige Büffel-Mozzarella kommt nicht aus Italien, sondern von Anna’s Hof in Schleswig- Holstein. Am Stand von AusterRegion (Nr. 18) knacken Marco und Joost wilde Austern aus Zeeland und Frankreich, manchmal haben die Jungs handgeangelte Jakobsmuscheln aus Norwegen dabei – ein rares Vergnügen. Fröhlich vereint finden sich Bremer Knipp, hessischer Handkäse und Pfälzer Saumagen in der Auslage des kleinen Wagens auf Höhe der Hausnummer 11, dessen Markise Original Schwarzwälder Spezialitäten verspricht. Die gibt’s auch. Auf dem Isemarkt hat die französische Charcuterie ebenso ihren Platz wie jener köstliche Leberkäswecken, ’tschuldigung, Leberkäsebrötchen, der mich in meine alte Heimat zurückversetzt: Bei König Leberkas (gegenüber Nr. 73) gibt es den besten nördlich des Weißwurstäquators: eine dicke, saftig dampfende Scheibe, in einer röschen Kaisersemmel gereicht – so muss das sein! Anfangs schlichen die Hamburger etwas zögerlich ums blau-weißbeflaggte Büdchen, die Lernkurve war aber steil!
NACH 17 MONATEN UND 730 KILOMETERN ANREISE: KÄSE WIE KEIN ANDERER
Ein weiterer süddeutscher Genuss-Importeur kommt aus dem Allgäu. Es ist ein Segen für hiesige Käsefans, dass Thomas Breckle von Jamei Laibspeis’ (gegenüber Nr. 47) eher zufällig den Weg in die Hansestadt fand. Alles begann mit einem Freundschaftsbesuch bei Hamburger Bergsteiger- Kameraden. Als Gastgeschenk hatte Breckle einen ganzen Käse unterm Arm. Es stellte sich heraus: Der Freundeskreis lebt vegan. Am nächsten Tag verkauft er den Käse auf dem Markt. Der Beginn einer wundervollen Tradition, bei der mittlerweile gefühlt halb Hamburg geduldig Schlange steht. Deutschlands einziger Hartkäse-Affineur pflegt und veredelt in einem 200 Jahre alten Eiskeller bei Kempten junge Almkäse, die er von ausgesuchten Sennern kauft. Auf Fichtenholz gelagert, in Dunkelheit und bei einer natürlich konstanten Temperatur um die 10 Grad, reifen diese Käse mindestens 17 Monate und bis zu 5 Jahre. Eingerieben und gepflegt werden die Laibe regelmäßig mit Salz, Wasser und Riesling. Mehr verrät das ehemalige Mitglied der Skilanglauf-Nationalmannschaft nicht, das sich mit 23 Jahren der Käsepflege verschrieb. Auf dem Isemarkt ist die rote Skigondel schon von Weitem zu erkennen, in der Breckle und sein Kompagnon Martin Rösle alle zwei Wochen ihre Meisterstücke feilbieten: gespalten vom Laib, niemals geschnitten! Es sind die vielen kleinen Geschichten und Gespräche, es sind die Bauern und Gärtner, die Fischer und Schlachter, es sind die Feinkosthändler, Floristen und Genussmenschen, die den Isemarkt zu einem Lieblingsplatz in Hamburg machen. Und immer dienstags und freitags ist es ein guter Plan, diesen inspirierenden Ort bei einem entspannten Bummel wieder neu für sich zu entdecken.
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 51