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Der Anker Gottes

KLEINOD

Text: Peter Wenig | Fotos: René Supper

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 61

Das sanfte Schwanken spürt man erst nach einigen Minuten. Die wuselige Hafenpromenade scheint an diesem Sonntag so nah und doch so fern. Pastor Heinz-Jochen Blaschke predigt gut gelaunt und mit sonorer Stimme über Gemeinschaft und Wunder. „Lobet den Herrn“ singen die Gläubigen am Ende, kraftvoll klingt die Orgel.

Willkommen in der Flussschifferkirche, willkommen im letzten schwimmenden deutschen Gotteshaus dieser Art. Seit 2006 liegt das Kirchenschiff an den Kajen bzw. der Hohen Brücke, ganz in der Nähe der U-Bahn-Station Baumwall. Doch in Wahrheit ist die „Flusi“, wie sie liebevoll abgekürzt wird, älter. Viel älter. Als der Weserleichter 1906 vom Stapel lief, regierte Kaiser Wilhelm II. das Deutsche Reich. Im Zweiten Weltkrieg transportierte die Schute Waffen. Dank Spenden von Gemeinden aus Schweden, Dänemark und den USA konnte das Schiff 1952 auf der Hamburger Norderwerft zur schwimmenden Kirche umgebaut werden – ein Zeichen des Friedens sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Binnenschiffer, die mit ihren Familien höchst beengt auf ihren karg ausgestatteten Schiffen lebten, fanden hier ein zweites Zuhause. Ihre Kinder durften auf den Holzplanken spielen, dafür wurden die Stühle einfach zur Seite geräumt. Auf der „Flusi“ wurde gebetet, geklönt, getanzt, gelacht und gefeiert. Dreimal zog die Schute um. Von Billstedt über die Veddel nach Rothenburgsort bis zu ihrem finalen Liegeplatz an den Kajen. Allein hätte sie es nie geschafft, als Schute verfügt sie nicht über einen Motor. Aber ein Schlepper brachte die „Flusi“ sogar zum Kirchentag 2009 nach Bremen.

Mehr als 70 Jahre nach ihrer Weihung am 7. Dezember 1952, dem zweiten Advent, versammeln sich an diesem Sonntag im Mai neun Besucher zum Gottesdienst. Blaschke, ehemaliger Pastor der Gemeinde St. Gertrud auf der Uhlenhorst, zählt seit vielen Jahren zu dem Kreis der Theologen, die ehrenamtlich im Wechsel auf der „Flusi“ predigen. Ihm macht das überschaubare Interesse an diesem Tag nichts aus: „Ich habe von meinen theologischen Lehrern etwas sehr Wichtiges gelernt: Freu dich an denen, die da sind.“
Es wäre ohnehin absurd, eine Kirche allein danach zu beurteilen, wie viele Gläubige zu den Gottesdiensten kommen. Und gerade die „Flusi“ ist mehr. Viel mehr. Ein Anker Gottes im Binnenhafen. Es gibt Tage, da kommen bis zu einhundert Besucher. Viele machen nur ein paar Fotos. Andere bleiben zum stillen Gebet. Oder suchen das Gespräch. Über ihren Glauben, über Lebenskrisen. Und manche Binnenschifferinnen und Binnenschiffer im Ruhestand kommen seit Jahrzehnten fast jede Woche.

Ihr Gesprächspartner trägt einen Zopf, ist 52 Jahre alt und Diakon. Mark Möller kümmerte sich vor seinem Dienstantritt 2020 in der „Flusi“ um Seeleute an der Themse. Zuvor betreute er Wohnungslose in Berlin und Süchtige in Hamburg und leitete neun Jahre das Café der Hauptkirche St. Jacobi. Er strahlt die gleiche Ruhe aus wie sein Schiff. Geduldig beantwortet er die Fragen der Touristen, klärt vor dem Gottesdienst mit dem Organisten und dem Pastor letzte Details und drückt einer zu spät kommenden Besucherin das Gesangbuch in die Hand.

Ohne Gottvertrauen und den Glauben, dass schon alles gut wird, wäre diese Aufgabe auch kaum zu meistern. Möller will die Tradition bewahren und zugleich den Aufbruch in die Moderne wagen. Der Spagat beginnt mit höchst irdischen Problemen. Auf Deck wirkt die „Flusi“ piekfein. Altar, Kanzel, Taufbecken, Glocke, Stühle, Fenster – alles tipptopp. Kein Wunder, dass das schwimmende Gotteshaus für Hochzeiten und Taufen begehrt ist.

Doch schon der Hinweis an der Orgel – „zarter Anschlag ist erforderlich, sonst haken die Ventilfedern aus“ – zeigt, dass die „Flusi“ eben doch eine hochbetagte Dame ist. Wolfgang Daberkow, Mitglied des Förderkreises, fürchtet die im kommenden Jahr wieder anstehende Schwimmfähigkeits-Untersuchung: „Da kann es böse Überraschungen geben. Es rostet hier, es rostet da.“ Bis zu 200.000 Euro könnte der Werftaufenthalt dann kosten. Der Aufbruch in die Moderne verlangt nicht weniger Anstrengungen. Möller will die Präsenz in den sozialen Netzwerken ausbauen, dafür sorgen, dass die „Flusi“ auch über Internet und Telefon Gespräche für Binnenschiffer anbieten kann. Gern würde er auch mehr Betreuer für die Besucher einsetzen: „Wenn die Leute Fragen stellen können, bleiben sie länger.“ Das alles kann nur über das Ehrenamt funktionieren, die Kirche beteiligt sich nach der Übergabe der „Flusi“ 2007 an den Förderverein nur noch an Möllers Gehalt, angestellt ist er bei der Gemeinde St. Katharinen. Ohne das Engagement von Mitgliedern wie Daberkow, die Küsterdienste verrichten, kleine Reparaturen erledigen und Spenden akquirieren, wäre Möller aufgeschmissen.

Wie sehr sich der Kampf lohnt, zeigen Fotos von Einsätzen der Barkasse „Johann Hinrich Wichern“, benannt nach dem Hamburger Theologen, der im 19. Jahrhundert die Binnenschifferseelsorge einführte, auch das Rauhe Haus gründete. Sein Glaubenssatz „Wenn die Menschen nicht zur Kirche kommen können, muss die Kirche zu den Menschen gehen“, taugt als Leitmotiv für die Arbeit der Flussschifferkirche. Das Boot liegt längsseits der „Flusi“ und rückt zwischen Ostern und Nikolaus fast jeden Donnerstag aus, um Binnenschiffe im Hafen anzusteuern. Die dreiköpfige Crew versorgt die Besatzungen mit Äpfeln aus dem Alten Land und Zeitungen, auch polnische und englische Exemplare sind an Bord. Noch mehr freuen sich die meisten Binnenschiffer über den Klönschnack.

Am Ende des Gottesdienstes bittet ein Förderkreis-Mitglied um Spenden mit Blick auf den anstehenden teuren Werftaufenthalt. Pastor Blaschke macht Mut: „Wir schaffen das. Dies ist für mich der schönste Ort zum Predigen.“ Die „Flusi“ soll auch die nächsten Jahrzehnte der Anker
Gottes im Hafen bleiben.

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