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Ortsporträt – Schanzenviertel

 

 

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AUTORIN: SILKE BURMESTER   

FOTOS: JULIA SCHWENDNER

Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 37

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Das große Missverständnis in Bezug auf Hamburg ist die Annahme vieler Menschen südlich von Hannover, Hamburg läge am Meer. „Ihr am Meer“, sagen sie und wissen nicht, dass die süße Pfütze Ostsee gut eine dreiviertel Stunde Autofahrt entfernt liegt und die wilde Schwester Nordsee anderthalb. Vielleicht hat die Annahme mit dem Umstand zu tun, dass es hier viel weht. Selten steht die Luft, fast immer geht ein Wind. Häufig frisch, oft fordernd. Wir Hamburger brauchen das. Der Wind trägt den Duft und die Versprechen der großen weiten Welt in das, was unsere Oma „Wohnstube“ nannte, und seine Frische macht den Kopf frei. Frei von der Enge bürgerlicher Werte und zu viel Piefigkeit.
Die Leute reisten und reisen auch nach Hamburg, weil es hier immer etwas wilder, etwas freier ist als in ihrer Südlich-von-Hannover-Idylle.

 

Ganz oben auf der Liste dessen, was sie sich angucken wollen, steht das „Schanzenviertel“ mit seinen vielen Kneipen und kleinen Läden und einer Ästhetik, die – so sie denn der Gentrifizierung trotzen konnte – noch immer geprägt ist von der Vorstellung der Linken von einem anderen Leben. Das ist interessant, das will man sehen, und seit einer der dümmsten politischen Ideen – der, den G-20-Gipfel hier abzuhalten – kommen sie auch, um die Bilder mit denen aus den Nachrichten abzugleichen. Den Bildern, als alles aus dem Ruder lief und Hamburg aussah wie Belfast in den 80ern. Jetzt krönt die Schanze noch eine Art Gruselfaktor, und es besteht die Gefahr, von Schwaben, Schweizern und Schweden als Freiluftfiliale des „Hamburg Dungeon“ verstanden zu werden. Für uns, die wir hier leben, wäre der G-20 gar nicht nötig gewesen. Wir wussten auch so, dass nichts stark genug ist, die Schanze
klein und plattzukriegen und dass „die Schanze“ mehr ist als die „Rote Flora“ und die Möglichkeit, an jeder Ecke Kaffee zu trinken. Die Schanze ist eine Art gallisches Dorf. Sie ist in dieser schönen, adretten, reichen Stadt der Stein im Schuh. Immer etwas störend und unbequem steht sie für andere Werte als die einer modernen Konsumwelt. Das fängt schon bei der langen Straße an, die das Viertel bis dorthin durchzieht, wo früher Altona, also Dänemark, begann: dem Schulterblatt. Sie dürfte eine der letzten langen Kopfsteinpflasterstraßen im innerstädtischen Raum sein, und sie mit dem Fahrrad zu nutzen, ist, als würde man auf einem
Rüttelband stehen. Man bangt um sein Hirn, seine Frisur, die Einkäufe im Fahrradkorb. Und um die schönen Blumen: Gleich neben dem umstrittenen autonomen Kultur-und Politzentrum Rote Flora liegt die Grüne Flora, einer der schönsten Blumenläden der Stadt. Schon auf dem Gehweg davor zeigt sich, dass der Blick der Landschaftsgestalter,
die das Geschäft betreiben, mehr einschließt, als nur schöne Blüten. Bäume und Gewächse stehen hier, wilde Zweige und Sträucher mit grellleuchtenden Beeren. Und Pflanzen, an die wir uns aus unserer Kindheit erinnern – und die, wenn sie denn hier angeboten werden, wohl bald sehr angesagt sein werden.

 

Zwei Häuser weiter werden „Barfußschuhe“ verkauft, denn auch das ist die Schanze: offen für jeden peinlichen Trend, so er denn „gesund“ ist.
Mit der Gentrifizierung sind die Mieten explodiert, der alte Bioladen auf der Ecke gegenüber konnte sich ebenso wenig halten, wie etliche andere Geschäfte. Große Ketten sind gekommen, aber wer etwas auf sich hält, kauft sein Make-up nicht hier bei Mäc, sondern dort, wo solche Ketten hingehören, in der Innenstadt. Dass Adidas wieder zugemacht hat, ist eine stille Genugtuung für jene, die in den großen Marken das Ende der Individualität und des Charakters von Stadtteilen ausmachen. Umso mehr lieben wir hier die kleinen Shops und die abgeschrabbelten
Restaurants, in denen die Zeit mitunter still zu stehen scheint und die eine ganz besondere Reise ermöglichen: dorthin, wo die Welt noch so ist, wie das, was wir suchen, wenn wir – egal in welcher Stadt – in die neueröffneten Geschäfte und Cafés gehen, die so tun, als stünde die Uhr auf „Oma-Time“. Da ist der Tee- und Kaffeeladen Stüdemanns mit seinen feinen Trüffeln und Schokoladen in Fischform, der legendäre Büromarkt Hansen , wo Verkäufer die Kugelschreiberminen wahrscheinlich mit verbundenen Augen am Geschmack erkennen, die Taverna Romana, die ohne Umbaumaßnahmen als Drehort für die Darstellung einer Studentenkneipe von 1976 herhalten könnte und die Schanzen-Buchhandlung, die nicht nur so aussieht, wie ein linker Buchladen 1986, sondern deren Schriften und Pamphlete auch an alten linken Ideen, Ideologien und Idealen festhalten.

 

Auch großartig: Zardoz, jener Secondhandladen, wo Plattenliebhaber langesuchte LPs finden und die Neuheiten des Buchmarkts oft schon vor ihrem Erscheinen angeboten werden. Schlicht, weil Journalisten
hier ihre Rezensionsexemplare hinbringen. Wenn man möchte, dass internationale Unternehmen den Takt des Geschmacks vorgeben, wenn man an die Kraft der Bürgerlichkeit glaubt, dann wird man in der Schanze
nicht glücklich. Wenn man aber offen ist, für das, was zwischen den Betonplatten von Konformität und Konsum wächst, dann erweitert der Gang durch das Viertel, durch die schiefen Straßen mit ihren kleinen Häusern, in denen früher die Arbeiter des Schlachthofes lebten, den Blick. Dann werden Lebensformen sichtbar, in denen es ums Miteinander geht. Dann werden Räume erkennbar, wie das gut zwanzig Jahre alte Männerwohnprojekt, in dem mittlerweile die Kinder durch den Garten toben, der Mädchentreff, der riesige Spielplatz, der versteckt die Straßen Schulterblatt und Bartelsstraße verbindet und Höfe, die von den Bewohnern als Gartenwohnzimmer für alle genutzt werden.

 

Dann freut man sich über kleine Imbisse, die sich noch nicht der kosmopolitischen Austauschbarkeit verschrieben haben, der legendären Schlachtergaststätte Erika’s Eck, mit ihren charmanten Öffnungszeiten von 17 bis 14 Uhr, einem großartigen und leider sehr teurem Angebot skandinavischer Designermöbel bei Wohnkultur 66. Ebenso wie an dem Angebot von Cohen & Dobbernigg, einem der besten unabhängigen Buchläden der Stadt. Wehmut gibt es auch: Das Schanzenkino, im Montblanc-Haus, eines der letzten Programmkinos, wird wohl den Plänen eines Investors weichen müssen.


Zuletzt war die Aufregung groß, als bekannt wurde, dass ein ehemaliger RAF-Terrorist, Karl-Heinz Dellwo, an dem neueröffneten Restaurant Cantina Popular beteiligt ist. Für viele ein Skandal. Aber genau das ist die Schanze, und das war sie immer: eine Schnittstelle zwischen der Bürgerlichkeit eines Restaurants und politischer Extreme. Dieses Viertel hat Hamburg immer gutgetan. Es hat die Luft in einer Stadt aufgewirbelt, die an ihrer Schönheit zu ersticken droht. Sein Wind ist durch die Gediegenheit der Hansestadt gewirbelt und hat verhindert, dass die Winterhuder denken, alle Häuser seien weiß und die Blankeneser auf ihren Golfhügeln einschlafen. Die Besonderheit des Schanzenviertels gehört zum Selbstverständnis dieser Stadt, wie es zum Selbstverständnis auch der Pfeffersäcke gehört, die Besonderheit dieses Viertels auszuhalten. Der Skandal ist nicht, dass ein ehemaliger Terrorist im Schanzenviertel ein Restaurant eröffnet. Der Skandal ist, dass die von einem Kämpfer für das Volk eröffnete „Volksküche“ teuer ist und man nicht satt wird.

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