Bonjour Weltschmerz
Text: Simone Buchholz | Illustration: Ralf Nietmann
Diesmal beginnt es in Paris, an einem späten Donnerstagnachmittag werde ich dort abgeworfen. Paris ist nur eine Zwischenstation, aber eine sehr gute natürlich.
Und so laufe ich unterm zartrosa Himmel durch die Straßen von Montmartre, übers rumpelige Kopfsteinpflaster und vorbei an bunten, mit Blumenkram geschmückten Häusern. Da war doch mal was, denke ich, vor fast zehn Jahren, als ich mit Nachtzügen durch Europa gefahren bin, von München nach Mailand nach Paris nach Madrid nach Lissabon. Ich erinnere mich an diese winzige Bar irgendwo hier in dieser Ecke, auch das war nur eine Zwischenstation, bevor es am nächsten Abend weitergehen sollte zu den Iberern. Aber wie hieß der Laden noch? Ich krame in meinen Erinnerungen … Chez irgendwas. Ich laufe weiter, ein bisschen Hunger hätte ich auch schon, ich kaufe mir ein Baguette mit Käse, es wird kühl, es wird dunkel, es fängt an zu nieseln, und da taucht sie auf, gleich links die Straße runter: die Bar, „Chez Camille“. Winzig, mit einem kleinen Brettergarten davor. Ich gehe rein, ein Glas Wein bitte, danke, ich hätte Lust, die ganze Nacht bei Camille zu verbringen, aber halt: Wozu eine besondere Nacht aus meiner Vergangenheit nachstellen, denke ich, während ich den Chablis trinke, das funktioniert doch eh nicht, also lasse ich die alte Nacht, wo sie war, und gehe schlafen.
Am nächsten Tag steige ich in den TGV nach Nantes und versuche, bei mir zu bleiben, was unterwegs ja gar nicht so leicht ist, ich versuche, die Loire nicht zu verpassen, die Strecke der Loire entlang ist immer so besonders schön. Aber ich lese Juri Andruchowytsch, das ist echt geiler Stoff aus der Ukraine, und bei Le Mans denke ich zwar einen Moment: Oh, jetzt aufpassen, nur noch links abbiegen und ein Stück nach Süden, dann geht es Richtung Westen entlang des berühmten Flusses, aber da lese ich schon wieder Juri Andruchowytsch, und draußen regnet es.
In Nantes scheint die Sonne, entgegen aller Drohungen der französischen Wettervorhersage. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse – ich stehe ganz im Westen Europas, in der Sonne und im warmen Atlantikwind, während im europäischen Osten eine blutige Kaltfront steht, und am nächsten Tag, als ich in der Bretagne ankomme, ist es dort noch milder, und die Nachrichten aus dem Osten werden noch härter. Mit diesem Weltschmerz gefüttert stürze ich mich in das Festival, dessen Teil ich hier bin, „Noir sur la Ville“ heißt es, im kleinen Ort Lamballe-Armor, am Golf von Saint-Malo. Kolleginnen und Kollegen aus ganz Frankreich liegen sich zur Begrüßung in den Armen, und ich spüre, dass ich nicht die Einzige mit Weltschmerz bin. Weltschmerz gehört ja genau genommen zur Standardausstattung französischer Gesichter, Seelen und Umarmungen, das ist auch noch und besonders abends so, und gerade an diesem Abend, als Claudine, meine französische Übersetzerin, mit Benjamin, einem bretonischen Anarchisten, zu streiten anfängt, quer über den Tisch und meinen Kopf hinweg, und die anderen sich kurz Sorgen machen, dass mich das nerven könnte. Aber nein, ich liebe es, denn wie zeigt sich Weltschmerz besser als in einem leidenschaftlichen Streit?
Um Mitternacht stehe ich dann mit dem bretonischen Anarchisten draußen vor der Tür, jetzt ist es auch hier kalt geworden, und damit die Tür nicht zufällt, hab’ ich eine meiner goldenen Stiefeletten ausge-
zogen und zwischen Tür und Rahmen geklemmt, und der Anarchist sagt: „Wer bitte ist hier die Anarchistin?“
Morgens sind wir alle am Meer, es gibt Austern und Wellen und Licht und Weißwein zum Frühstück, ich denke wieder an die kalte Front im Osten, und am nächsten Tag in Nantes esse ich mit einem Mann zu Mittag, der in Moskau geboren wurde, aber in Paris aufgewachsen ist, und der seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht mehr schlafen kann, obwohl er nichts weiter damit zu tun hat, als dass er die Romane russischer Dissidenten ins Französische übersetzt.
Am späten Abend stehe ich wieder vor meinem Zuhause in Hamburg, es ist wieder arschkalt, die Wetter- und Weltlage schickt Eisregen, so ist das eben mit den unterschiedlichen Zeitlinien und Realitäten, denke ich, und schließe auf.