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Wahlkampf

Text: Simone Buchholz | Illustration: Ralf Nietmann

Kraft meines Amtes als Königin von Hamburg ordne ich an, dass ab jetzt Schluss ist mit meiner autokratischen Regentschaft. Ab jetzt machen wir Demokratie. Ich kann die Veränderungen, die ich mir für diese Stadt wünsche, meine zugegebenermaßen fantastischen Ideen, nicht mehr einfach mit absolutistischer Gestaltungsmacht durchsetzen, ich muss sie der Bevölkerung vielmehr verkaufen,
ich muss die Hamburgerinnen davon überzeugen, dass das, was ich vorhabe, gut ist für das Leben in unserer Stadt. Ich muss Wahlkampf machen.

Ich finde das einfach besser, meine harte Hand ist spätestens seit dem September, seit den Wahlerfolgen von Männern, die eine harte Hand fordern, nicht mehr zeitgemäß. Also mache ich einen Vorschlag. Natürlich würde ich mich freuen, wenn er angenommen wird, aber altersstarrsinnig, wie ich bin, ordne ich trotzdem noch schnell an: Sollte mein Vorschlag nicht angenommen werden, werde ich kurzerhand die Kuchen-Flatrate für alle, die ich beim letzten Mal befohlen habe, wieder zurücknehmen. (Geräusch von klimpernden Wimpern.)

Mein Vorschlag, mit dem ich in den Wahlkampf ziehe: das auf allen Ebenen verpflichtende
Zusammenspiel von Jung und Alt, die große Versöhnung der Generationen, die Aufhebung der
gesellschaftlichen Spaltung.
Es ist fast zwanzig Jahre her, dass ich, damals noch eine kinderlose Katzenfrau und Kettenraucherin, meinen knapp dreijährigen Patensohn im Buggy über den Großneumarkt schob. Ein ungemütlicher Hamburger Herbstnachmittag. Wir kamen von den Landungsbrücken, ich hatte ihm gerade einen braun-weißen Fanschal des FC St. Pauli gekauft, er trug ihn mit befugtem Gesicht um seinen zierlichen Hals, ich rauchte und schob den Buggy mit einer Hand. Eine sehr alte Dame kreuzte unseren Weg, sie schob sich mithilfe ihres Rollators übers Kopfsteinpflaster, auch einhändig, in der anderen Hand hielt sie eine Zigarette. Wir fanden beide, dass sie sehr lieb aussah. „Das ist eine Oma“, sagte mein Patensohn. „Richtig“, sagte ich. „Die ist schon alt“, sagte mein Patensohn. „Richtig“, sagte ich. Er dachte kurz nach. Dann fragte er: „Bin ich neu?“ „Ja“, sagte ich, „auch das ist richtig – du bist neu.“ „Und was bist du?“ Ich überlegte. „Ich“, sagte ich, „bin mittel.“

Inzwischen ist er eher mittel, und ich gehe mit großen Schritten auf alt zu, aber wir sind immer noch ein gutes Team. Vor zwei Jahren waren wir für ein paar Tage in Glasgow. Ohne ihn hätte
ich es nicht ins Celtic-Stadion geschafft, ohne mich und meinen beherzten Einsatz mit dem Concierge und dessen Zentralschlüssel hätte er ­die Taxifahrt zum Flughafen und damit den Flug verpasst. Die Jungen können einfach Dinge, die die Alten nicht können, und umgekehrt. Wir sollten dringend aufhören, mit dem Finger auf die  je­weils anderen zu zeigen – „Rentner! Boomer! Holz­köpfe! Alles versaut!“ und „Millennials! Generation Z! Schneeflocken! Faulpelze!“ – und statt­dessen anfangen, voneinander zu profitieren.

Mein Sohn hat enorm wichtige Dinge von meiner Mutter und dem Vater seines Papas gelernt: schwimmen, Rad fahren, handwerken, schimpfen, gut essen und noch so vieles mehr. Dafür revanchiert er sich mit wundersamem Technikwissen, spontanem Auf-Leitern-Steigen und Regenrinnen-Reinigen, Garten-Durchpflügen und Humor an den richtigen Stellen. Von mir bekommt er zum Beispiel ein Dach überm Kopf, einen vollen Kühlschrank und warme Mahlzeiten kurz vor Mitternacht, saubere Fake-Burberry-­Klamotten, morgens um halb sieben einen gezuckerten Kaffee ans Bett, Rettung in letzter Sekunde, Anrufe bei schwierigen Behörden und Liebe satt. Ich bekomme im Gegenzug modische Beratung. „Wie findest du diesen Rock?“ „Ich würde ihn nicht anziehen.“ Und jede Menge Wissen über Kampfsport, einen manchmal etwas zu starken Beschützerinstinkt und den Duft von Emporio Armani „Stronger With You“ in der ganzen Wohnung und mit jedem Tag, den er älter und erwachsener wird, mehr Freiheit.
Ich finde, das ist ein guter Deal, und ich finde, dass wir solche Tandems gesamtgesellschaftlich ausweiten sollten. Wir wären heute sehr viel besser dran, hätte Christian Lindner seinen Weg durch die Politik an der Hand von Hildegard Hamm-­Brücher oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gemacht. Und hätte sich Wolfgang Kubicki öfter mal was bei Bijan Djir-Sarai abgeschaut.

Die Älteren können den Jüngeren davon berichten, wie sich die Liebe unter den Menschen vor Social Media angefühlt hat. Die Jüngeren können den Älteren beibringen, wie man generationen­alte Mauern im Kopf einreißt. Vielleicht sollten die gesellschaftlichen Tandems in Familien, Unternehmen, Büros und der Politik, überall dort also, wo ich sie gern etablieren würde, auch einfach regelmäßig zusammen schwimmen gehen, damit sie ihre Körper ohne die tägliche Rüstung und Kostümierung und Dekoration sehen. Dann würden die jungen Menschen automatisch begreifen, dass auch sie vergänglich und endlich sind und mitnichten unbesiegbar, weil das Leben Narben und Gewicht hinterlässt, und zwar nicht nur physisch, und dass ein gnädiger Blick auf die anderen in jeder Struktur oder Gesellschaft hilfreich ist. Und die alten Menschen würden sich erinnern an die Zeit, in der auch sie noch Träume hatten. Machen wir doch bitte
einfach gemeinsam das Beste draus.

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