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Hamburgische Staatsoper

Seit fast 350 Jahren besteht beim Gänsemarkt eine Oper. Heute ist Hamburgs größter Kulturbetrieb mit 800 Mitarbeitern eine komplexe Kunstmaschine, die Musiktheater, 
Ballett und Orchester unter einem Dach vereint. Um ständig logistische und künstlerische Meisterleistungen erbringen zu können, wurde 2018 ein neuer Werkstatt-Campus eröffnet.

Text: Till Briegleb | Fotos: Anatol Kotte

Den echten Geist eines Theaterhauses sieht man nicht dort, wo alle hinschauen. Denn auf der Bühne ist alles inszeniert. Die Seele eines Betriebs wie der Hamburgischen Staatsoper sucht sich besser im Hinterhaus und den Werkstätten, in der Kantine und im Foyer. Denn das gute Phantom der Oper geistert durch die Gänge
und die Gespräche, zeigt sich im Stolz auf Getanes und Gelungenes, ist vielleicht messbar in Gelassenheit,
Gerechtigkeitssinn und gelegentlichem Gelächter. Und an besonderen Gesten. Zum Beispiel, dass die Wände der Dekorationswerkstätten in Rothenburgsort eine Galerie sind, und zwar nicht mit den Werken der großen Bühnenkünstlerinnen und -künstlern, die sich mit ihren Inszenierungen an der Dammtorstraße berühmt (oder unbeliebt) gemacht haben, sondern mit denen der Azubis.

Sechs Nachwuchskräfte der praktischen Theater-berufe sind ständig in den riesigen Hallen, die 2018 in Betrieb gingen, beschäftigt. Und alle, die sich im Bereich der Bühnenplastik und der Theatermalerei entwickeln durften, verschönerten mit Kostproben ihres Talents die 6800 Quadratmeter Nutzfläche: unter den 14 Meter hohen Hallendecken, auf Schränken, hinter Werkbänken bis hin zur Teeküchenwand.

Da betet bei den Kulissenmalern eine Madonna mit blauen Plastikhandschuhen zum Himmel, von wo sie die Weisung erhält: „Use Gloves“. Architekturstudien von antiken Ruinen über eine prächtige Barockkuppel bis hin zu einem grünen Wartezimmer thronen unterm Dach, darunter ein Frosch in Biedermeier-Mode. Und bei den Plastikern zwischen Tafeln und Regalen mit Stuckvorlagen dekoriert eine klassizistische Frauenskulptur die Werkstatt zusammen mit Bronzepferd, Meerjungfrau und einem riesigen Geierkopf. „Betreutes Basteln“ nennen sie hier ihre Kunstfertigkeit im Spaß.

Denn natürlich ist alles täuschend echt gelungen. Wie es sein muss in einem Kunstatelier, das auf alle ästhetischen Fragen eine Antwort haben muss. Da kommt Frank Castorfs Bühnenbildner Aleksandar Denić vorbei und will für „Boris Godunow“ eine drehbare Monumental-Collage aus U-Boot-Turm, russischem Kloster, Kneipe und Palast, ergänzt um stalinistische Propaganda-Skulpturen und westliche Statussymbole. Da denkt sich der Bühnenbildner Florian Lösche für Jette Steckels „Zauberflöte“ eine 170.000 Euro teure Digital-Bühne aus computergesteuerten LED-Vorhängen aus. Der Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tschernjakow will für drei Richard-Strauss-Inszenierungen denselben Raum, nur jedes Mal völlig anders in der Wirkung. Und auch skurrile Sonderwünsche werden hier begeistert entgegengenommen, etwa die Kopie von Putins irrem Marmortisch, mit dem er Besucher im Kreml distanziert, für das Opera-Stabile-Projekt „Die Kreide im Mund des Wolfs“ von Dieter Sperl und Gordon Kampe.

„Geht nicht, geht uns gegen den Strich“, sagt Stefanie Braun selbstbewusst. Die Leiterin der Dekorationswerkstätten in Rothenburgsort organisiert den reibungslosen und kreativen Ablauf eines multikomplexen Arbeitsfelds von rund 60 Mitarbeitern, die für die sieben Premieren der Oper, für drei des Balletts sowie für zwei der Studiobühnen Ausstattungen nach unterschiedlichsten Handschriften herstellen, aber auch das Repertoire pflegen und reparieren und sogar noch die Kindersitzkissen nähen. Dass all diese Tätigkeiten so funktional wie freundschaftlich ablaufen, wie es den Eindruck macht in diesem Handwerksparadies, hat Braun ebenfalls zu verantworten.

Denn auf Nutzerseite hat sie für den rund 70 Millionen Euro teuren Neubau auf der Brache des ehemaligen Huckepackbahnhofs die Verantwortung für die Gebäude-organisation huckepack genommen. Motto: keine Flure! Denn den Separierungstendenzen unterschiedlicher Gewerke kann eine kluge Architektur gut vorbeugen.

Darum gehen die Hallen für Schreiner, Metallbauer, Maler, Plastiker und Textilverarbeitung ineinander über. Dieses Sphärenmodell führte dazu, dass nach dem Umzug aus den alten Industriehallen der Schiffsbauversuchsanstalt in Barmbek am neuen Standort ein Gemeinschaftsgeist wuchs. Was auf der Bühne stimmig zusammenkommen soll, wird bei den produzierenden Kompetenzen aus Kollektivgeist gefertigt.

„In der Summe der Details erkennt man die hohe Qualität unserer Arbeit“, sagt Stefanie Braun über das Resultat. „Und das Publikum spürt das, selbst wenn es die Einzelheiten gar nicht wahrnehmen kann.“ Diese
fantasievolle Präzision erscheint umso erstaunlicher, wenn man weiß, dass die Hamburgische Staatsoper ein gigantisches Repertoire vorhält, „vermutlich weltweit das größte überhaupt“, wie der Technische Direktor Christian Voß meint. Circa 150 Stücke sind wieder aufnehmbar, darunter über 80 Ballette von John Neumeier, der bis zu seiner Verabschiedung letzten Juli mit 22 Minuten Standing Ovations 51 Jahre die Compagnie geleitet hat. Die älteste Produktion überhaupt aber ist „Hänsel und Gretel“ von 1972, die zu Weihnachten immer wieder aufersteht.

Für diese enorme Menge an Kulissen und Kostümen wurde am neuen Werkstattstandort noch ein hochmodernes Regallager und ein riesiger Fundus gebaut. Ein Standard, den sich Voß auch für das Stammhaus wünschen würde. Er selbst sitzt zwar in einem modernen hellen Büro des Betriebsgebäudes, das 2005 im Rücken des denkmalgeschützten Haupthauses aus der Nachkriegszeit bezogen wurde. Die eigentliche Bühnentechnik dagegen ist vielleicht nicht ganz so alt wie das 1678 von Hamburger Bürgern gegründete Musiktheater am Gänsemarkt. Der Zustand ist aber dennoch so rückständig und anfällig für Defekte, dass eine Generalsanierung in Bälde unumgänglich ist, wie Voß betont.

Und deswegen spukt seit einigen Monaten ein neues Phantom durch die Gänge der Hamburger Oper: die Idee eines ideal neu gebauten Musiktheaters auf der Kaispitze neben der Elbphilharmonie, mit 300 Millionen Euro primär finanziert von Hamburgs prominentem Mäzen, Milliardär Klaus-Michael Kühne. Voß wie seine Noch-Chefs, Intendant Georges Delnon und Generalmusikdirektor Kent Nagano, stehen der Häutung aus dem alten Haus ziemlich positiv gegenüber. Nagano gab sogar zu Protokoll, dass eine Stadt von der Größe Hamburgs auch zwei Opernhäuser vertrage. Tatsächlich aber geht es eher um einen Umzug irgendwann im nächsten Jahrzehnt.

Das Haus in der Innenstadt mit seinem lichten Straßenfoyer und dem Saal für 1690 Gäste wäre dann nur noch für ein Musical-Theater verwendbar. Aber zunächst muss das neue Leitungs-Team ab 2025, der Regisseur Tobias Kratzer und der Dirigent Omer Meir Wellber, seinen Erneuerungswillen noch lange mit den Mitteln einer 30 Jahre alten Technik zeigen. Bauen kann dauern in dieser Stadt, vor allem wenn Musik drin ist.

Ein Neumacher aber ist bereits da. John Neumeiers Nachfolger Demis Volpi. Er wird den sanften Übergang aus einer legendären Ära in eine ungewisse Zukunft gestalten. Und das ist nicht nur politisch und finanziell gedacht. Die Kunstform Ballett wird sich im Zeitalter der TikTok-Choreos ein ganz neues Publikum erobern müssen, ohne sich so zu verbiegen, dass man sie für Tanztheater hält. Der sehr sensible und aufmerksam wirkende Argentinier, der ordentlich ins Schwitzen geriet, als er John Neumeiers Nachfolge angeboten bekam, sucht in all seinen Aussagen diese Balance zu treffen.

„Wir machen nicht etwas Neues, nur um was Neues zu machen“, sagt Volpi bestimmt. „Doch ich denke, dass wir uns weiter öffnen müssen. Das ist unabdingbar, damit wir den Geist der Zeit nicht verfehlen.“
Identitätsfragen tauchen immer wieder auf, wenn Volpi über seine künstlerische Vision spricht, Versöhnungshoffnungen, aber auch die Frage, „was wir an Freude schenken können. Gerade in so einer bedrohlichen Zeit brauchen wir positive Momente, damit wir nicht komplett durchdrehen.“ In dem Zusammenhang betont der neue Intendant des Hamburg Ballett auch seinen Willen zum Gemeinschaftsgeist. Das unter Neumeier völlig autarke Ballett will er kommunikativ und konzeptionell wieder näher an die Oper heranführen.

„Ein gemeinsames Haus zu gestalten, kann nur von Vorteil sein“, sagt der sanfte Erneuerer, der mit Kratzer und Wellber an dem künftigen Mitei­nander arbeitet. Allerdings nicht nur mit den Chefs. „Wir haben unter diesem Dach so viele Berufsgruppen wie kein anderer Betrieb“, sagt Volpi und zählt sie respektvoll auf, von der Regie bis zum Elektriker. Sie alle müssten „in Resonanz“ miteinander stehen, damit die Magie des Betriebs sich auf der Bühne zeigen könne. Dafür sollte die Leitung durchlässig sein. „Ich versuche so viel wie möglich in der Kantine zu essen, damit man ins Gespräch kommt, und wir haben eine Tischtennisplatte geholt, da spiele ich gern mit.“ Die gute Geste füttert eben die Seele des Betriebs.

Der am Ende der Saison nach zehn Jahren scheidende Intendant, der Schweizer Georges Delnon, erklärt sich dagegen eher rückblickend. „Mir war es immer sehr wichtig, dass die Oper nicht nur etwas Kulinarisches und Schönes ist, sondern dass sie wirkliche Dinge verhandelt.“ Aus einer gesellschaftskritischen Haltung, die Delnon sich in der Protest-Sozialisation des 20. Jahrhunderts erworben hat, sind die Verbindungen zu Regisseuren erwachsen, die rebellisch in ihrer Art seine Spielpläne prägten: Calixto Bieito, Kirill Sere­brennikow, Christoph Marthaler, Romeo Castellucci oder Frank Castorf.

„Wie schaffe ich spannende Widersprüche?“, nennt Delnon als Leitmotiv seines Programms, aber ebenso: „Ich bin ein Zusammenführer. Das ist mein Hauptjob.“ In dem Sinne war er bemüht, die Oper nachhaltiger zu machen, betriebs-ökologisch wie organisatorisch, aber auch, was die Gleichstellung betrifft – am Regiepult mit vielen Frauen von Jette Steckel über Annilese Miskimmon, Angelina Nikonova, Yona Kim bis zur Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier, die in seiner letzten Saison Donizettis „Maria Stuarda“ inszeniert. Hinter der Bühne durch Förderungen von Diversität auf jeder Ebene. Bei allen Konflikten, die im Kampf um das beste künstlerische Ergebnis automatisch auftauchen, sei es ihm wichtig gewesen, Achtsamkeit für ein gutes Klima zu bewahren.

„Alle Menschen sollten hier wirklich gern arbeiten und gern miteinander arbeiten. Mit Bauchweh zum Job gehen, das darf nicht sein.“ Und dieser Erklärung zum Geist des Hauses, die nicht inszeniert wirkt, folgt das finale Bekenntnis zum Mehrwert des Singspiels:

„Ich glaube, Oper ist eine unglaubliche Quelle an Energie für die Zukunft.“

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Diesen Artikel finden Sie in Ausgabe 65

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