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Mitra Kassai
OLL INKLUSIV
Sie hat keine Lust auf graue Theorie zum Älterwerden – sie macht lieber bunte Realität draus. Mit Oll Inklusiv bringt Mitra Kassei Senioren und Senioritas wieder mitten ins Leben. Ihre Mission: altern mit Bass, Witz und Eierlikör.
Text: Regine Marxen | Fotos: Julia Schwendner
DJ Mad (Beginner) legt Retro-Soul auf, Hund Rosi sitzt zu seinen Füßen und schaut geduldig zu, während vor dem DJ-Pult eine Gruppe älterer Damen und weniger Herren schwoft.
Sie haben sich in Schale geworfen für diesen Sonntagnachmittag in der „The Boilerman Bar“ in der Hafencity. Wer nicht tanzt, klönt mit anderen Gästen, isst Butterkuchen, trinkt dazu einen Kaffee oder gönnt sich ein Eierlikörchen. Der Altersdurchschnitt: 60 plus. Logisch, denn wir befinden uns auf einem Tanztee der Hamburger Initiative Oll Inklusiv. Mitmachen darf hier, wer mindestens sechs Jahrzehnte auf dieser Erde weilt. Gründerin Mitra Kassei, leicht zu erkennen am grünen Cappie mit dem Oll-Inklusiv-Schriftzug, wirbelt von Tisch zu Tisch, begrüßt ihre Oldies, macht einen kurzen Stopp auf der Tanzfläche, hüpft dann weiter. Breites Grinsen, ungebremster Energielevel. Sie ist in ihrem Element.
„Ich wusste nicht, wo die Reise hingeht, und ich wusste auch nicht, wie sehr diese ganze Aktion explodiert“, sagt Mitra Kassei im Podcast „Der HAMBURGER Inside“. Oll Inklusiv ist eine Erfolgsgeschichte, die auch das Leben ihrer Gründerin verändert hat.
Angefangen hat alles 2018 mit einem sonntagnachmittäglichen Musikbingo für Menschen ab 60 Jahren im „Mojo Jazz Café“. Mitra wollte mit dieser Aktion das Leben von Hamburger Senioren und Senioritas, wie sie sie nennt, ein wenig aufmischen. Das hat geklappt. Weitere bunte Nachmittage folgten. Lesungen mit Linda Zervakis und Dominik Bloh, Mal- und Autorenkurse und der Oll-Inklusiv-Rikscha-Service für ältere und pflegebedürftige Menschen. Von Mai bis Mitte Oktober sind die elektrisch unterstützten Fahrräder im Hamburger Stadtgebiet unterwegs und bieten immobilen Fahrgästen eine Rundfahrt der besonderen Art. Zu den Tanznachmittagen, beispielsweise im „Kent Club“ oder „Knust“, kommen durchschnittlich 100 bis 180 Personen, die älteste Teilnehmerin ist 95 Jahre alt. Gemeinsam besucht man darüber hinaus Sankt-Pauli-Spiele, Musicals oder fährt zum Wacken-Musikfestival. Alle Aktionen sind kostenfrei. Interessierte können sich über eine eigene App informieren, austauschen und für Aktionen anmelden.
„You’ll never oll alone“, lautet das Motto der gemeinnützigen Initiative. Das ist es, worum es Mitra und ihren rund 40 Ehrenamtlichen geht: Sie wollen etwas unternehmen gegen Einsamkeit und Armut im Alter. Sie wollen das Altern in unserer Gesellschaft sichtbarer machen.
Der Initialmoment für diese Idee war der Umzug von Mitras Mutter in eine Münchner Senioren-Wohnanlage. Das neue Umfeld erschien der kulturell umtriebigen Frau ziemlich dröge. Mitra fand derweil in ihrer Wahlheimat Hamburg nach einem Burn-out langsam in ihren Alltag zurück. Sie begann sich zu fragen, wie sie selbst einmal alt werden wollte. Tanzend, klar, am besten zu den Beastie Boys. Die Welt aber scheint den Jüngeren zu gehören. Die Clubs sowieso. Die Musik- und Kulturmanagerin dachte über ihre Fähigkeiten, Kontakte und Möglichkeiten nach, um das zu ändern und die Welt ein Stück besser zu machen. „Ganz egoistisch, um einen positiven Footprint zu hinterlassen.“
Es kam, was kommen sollte. Es kam Oll Inklusiv.
Menschen zusammenzubringen, war schon immer eine ihrer Superkräfte. Vielleicht steckt da auch noch ein wenig München in ihr, wo das Zusammensein in den unterschiedlichsten Formen kultiviert wird. An der Isar ist sie aufgewachsen, die Musik hat sie vor fast 30 Jahren an die Elbe geführt. Diese Nord-Süd-Achse trägt sie als Tattoo auf dem Arm: eine Hamburger Hafenmöwe, die eine Münchner Brezel stibitzt.
Für die Karsten Jahnke Konzertdirektion betreute sie Anfang der 2000er-Jahre das Projekt „Maximum Hip-Hop“. Die Highlights: eine Graffiti-Ausstellung im Jahr 2000 in den Astra-Hallen, unter anderem mit Banksy, und ein Konzert im Millerntor-Stadion. Fünf Sterne deluxe, Beginner, Dynamite Deluxe, Eins Zwo, Ferris MC, das Treffen der Hamburger Hip-Hop-Legenden. Als Musikmanagerin, unter anderem für Fünf Sterne deluxe machte sie sich fix in der männerdominierten Hip-Hop-Szene einen Namen. Später wechselte sie in den digitalen Musikvertrieb, machte sich selbstständig. Bis heute sitzt sie im Beirat der Millerntor Gallery und im Vorstand bei Rock City e.V.
Eine großartige Zeit – mit hohem Druck und hohem Tempo: Mitra verlor sich selbst aus den Augen. „Nein“, sagt sie heute, „ist ein schönes Wort. Ich habe es damals zu selten gesagt.“ 2013 kam der große Knall. „Das Burn-out hat mich zusammengebrettert.“ Heute weiß sie ihre Kräfte einzuschätzen und umgibt sich bewusst mit positiven Energien. „Das Leben ist viel zu kurz, um sich mit negativem Scheiß vollzuballern.“ Die Arbeit mit ihren Senioren und Senioritas gebe ihr viel zurück, mit Zeit und Energie könne man viel Freude schenken. Mitra Kassei hat inzwischen eine Fortbildung zur Seniorenassistenz gemacht und sorgt ehrenamtlich in verschiedenen Pflegeeinrichtungen für gute Laune. Sie übernimmt Einzel- und Gruppenbetreuungen oder hilft an der Rezeption aus. Manchmal hält sie auch die Hand eines Sterbenden. Das ist die Schattenseite ihres Engagements. Sie sieht Menschen altern, manche gehen. Macht ihr das manchmal Angst? „Nein. Ich habe keine Angst vor dem Altwerden und auch keine Angst vor dem Sterben. Ich habe nur Angst vor Krankheiten“, sagt sie.
Eigentlich könnte sie sich jetzt zufrieden zurücklehnen. Oll Inklusiv läuft. Als Netzwerkerin und Ideengeberin macht sie einen fantastischen Job, bringt Ideen und die richtigen Leute zusammen. Aber Mitra will mehr. Die Initiative soll wachsen. Das betrifft Programmformate, aber auch die Standorte. In diesem Jahr bieten sie und ihr Team erstmals spielerische Stadtrundgänge an, mit denen sich Quartiere ganz anders entdecken lassen. Außerdem plant sie die Expansion in andere Städte wie Berlin, Köln und München. Das klingt nach einen ganzen Stück Arbeit. Wie schafft sie das alles? „Ich sehe das wie beim Wandern: Ich habe ein Ziel, aber auf dem Weg dorthin sehe ich auch die Blumen, Tiere und Landschaft um mich herum.
Das motiviert mich, den Weg zu gehen.“