top of page

Oliver Wurm

KREATIVER KOPF

Text: Peter Wenig | Fotos: Julia Schwendner

DH2002_Titel_S.jpg

Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 58

Seine Welten trennen 2100 Meter. Hier die Wohnung im Schatten der Elbphilharmonie. Hafencity. Edel, mondän, teuer. Dort das Büro in der Hein-Hoyer-Straße. Kiez. Schrill, rau, laut. Oliver Wurm (52) sagt, dass er genau diesen Wechsel braucht. Sein Büro in einem Ladenlokal, einen Steinwurf von der Reeperbahn entfernt, gleicht einem Schaufenster zur Welt. Nachtschwärmer, Obdachlose, Touristen stromern vorbei, mitunter klingelt jemand spontan für einen Schnack. Dann brüht er einen Kaffee auf. Keinen Macchiato, keinen Espresso. „Bei uns gibt es nur Filterkaffee, zubereitet mit einem permanenten Edelstahlfilter. Ich nenne es die kleine Zen-Übung zwischendurch.“ Die größere Zen-Übung hat er dann schon hinter sich. In der Wohnung tankt Oliver Wurm Energie. 25 Minuten „sitzen in Kraft und Stille, wie es in der Daishin-Zen-Linie heißt“. Jeden Morgen.

Der Welten-Pendler zählt, das darf man sagen, seit Jahren zu Hamburgs kreativsten Köpfen. Er entfachte mit seinem Geschäftspartner Alexander Böker in Deutschland das Sammelfieber abseits der Fußball­alben, das Panini-Album „200 Jahre Kölner Karneval“ ist ihr 55. Klebewerk. Er entwarf, gemeinsam mit dem Designer Andreas Volleritsch, das Grundgesetz-Magazin, inzwischen mehr als 150.000-fach gedruckt. Er präsentierte das Neue Testament als Magazin, entwickelte zu Fußball-Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen hochwertige Magazine.

„Ich bin sehr glücklich, dass ich vor Jahren den Mut hatte, mit allen Vor- und Nachteilen auf eigene Ideen und das eigene Bauchgefühl zu setzen. Und dass ich die nötige Energie dafür aufgebracht habe. Für Verlage mit all ihren Meeting-Marathons und den festgefahrenen Strukturen bin ich wohl nicht mehr resozialisierbar“, sagt Wurm, einst Reporter bei „Sport Bild“, Ressortleiter beim Lifestyle-Heft „Max“ und Chefredakteur beim von ihm entwickelten Fußball-Magazin „Player“.

2007 wagte er den Sprung in die Selbstständigkeit. Risiken inklusive. Als er mit Böker 2009 das Panini-Album „Hamburg sammelt Hamburg“ startet, warnen sogar die Panini-Manager: „Glaubt ihr ernsthaft, dass Erwachsene für Klebebildchen von Heidi Kabel oder der Speicherstadt Geld ausgeben?“ Ein paar Wochen später jagt die halbe Stadt nach den Stickern von Helmut Schmidt, Judith Rakers, den Alsterschwänen und Zitronen-Jette. Am Ende verkaufen die beiden mehr als eine Million Sammeltütchen. Einen Brief aus dem Büro des 2015 verstorbenen Altkanzlers halten Wurm und Böker in besonderer Erinnerung. Schmidt gab den Panini-Machern nicht nur sein Einverständnis, sondern schlug auch gleich sein Wunschfoto vor: am Telefon, als Krisenmanager bei der Flutkatastrophe 1962.

2018 zeigt es Wurm mit dem Grundgesetz-Magazin erneut allen Skeptikern. Dabei verstößt das Projekt gegen fast jede Marketing-Regel. Der Text ist mitunter sperrig, schon damals fast 70 Jahre alt. Vor allem aber kann ihn sich jeder mit einem Klick herunterladen. Oder als Büchlein von der Bundeszentrale für politische Bildung schicken lassen. Beides kostenlos. Doch Wurm glaubt an die Kraft der Optik, druckt auf hochwertigem Papier, gliedert das Magazin in den Landesfarben und gewichtet mit Partner Volleritsch die 146 Artikel. Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“) nimmt eine Doppelseite ein, Artikel 104c („Finanzhilfen für Investoren“) zwei Zentimeter. Die Fotos von Deutschland, die den großen Kapiteln voranstehen, kommen sprichwörtlich von ganz oben, entstanden bei der „Sojus MS-09“-Mission des Astronauten Alexander Gerst.
Mit dem Magazin schafft es Wurm in die überregionale Presse.

„Haute Couture für die Verfassung“, adelt die „SZ“, „Verfassung auf Hochglanz gebracht“, lobt die „FAZ“. Das Risiko – Wurm wagte einen hohen sechsstelligen Betrag – lohnt sich kommerziell. Und für den Einsatz „für Rechtsstaat und Demokratie“ – so heißt es in der Begründung – erhält er von Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda das Bundesverdienstkreuz.

Zur Wahrheit gehört allerdings, dass auch einen wie ihn das Gespür für seltene Ideen mitunter verlässt. Manche Projekte wie das mit einem Augenzwinkern konzipierte Magazin über die Maskottchen der Bundesliga-Vereine werden am Kiosk abgestraft. Zum Glück funktionieren die meisten – wie die neue Lyrik-Reihe „dreizehnplus13.de“ oder das Heft zum Abschied von Angela Merkel.

„Auf die Schnauze fallen ist auch eine Vorwärtsbewegung“, heißt nicht nur der Impulsvortrag, für den Wurm regelmäßig gebucht wird. Er meint und lebt dieses Mantra auch. Nichts sei mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. So wie im Herbst 2020 beim zweiten Corona-Lockdown. Wurm und Böker spüren in ihrem Büro, wie schwach das Herz von St. Pauli schlägt. Der Kiez trägt Grau, die Kulturschaffenden darben. „Uns war klar, dass wir für diese Szene etwas tun müssen“, sagt Wurm. In Tag- und Nachtschichten entsteht im Ehrenamt und im Zusammenspiel mit Lars Meier von MenscHHamburg e.V. das Panini-Album „TeamHamburg“ mit 200 Persönlichkeiten. Der Clou: Auf den Stickern tragen alle die obligatorischen Masken, die in den Alben abgedruckten Porträts sind dagegen maskenfrei. „TeamHamburg“ bescherte der Szene eine Spende über 155.000 Euro.

Das Album zeigt seine Verbundenheit zur Hansestadt, auch wenn ihm die kölsche Mentalität näher ist. Sein aktuelles Projekt führt den Welten-Pendler quer durch die Republik. Er will in den nächsten Jahren alle 16 Landesverfassungen in Magazin-Optik veröffentlichen. Rheinland-Pfalz, Hamburg und das Saarland sind bereits im Handel, Bremen, Bayern und Hessen folgen dieses Jahr. Wer in seinem Internet-Shop
(dasgrundgesetz.de) bestellt, kann sich übrigens darauf verlassen, dass der Macher höchstpersönlich die Exemplare eintütet, frankiert und zur Post bringt. Die Sackkarre gehört zum Büroinventar.

bottom of page