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Owen Ansah
SPRINTER
Seit letztem Sommer ist er der schnellste Deutsche über 100 Meter. Er brauchte nur wahnsinnige 9,99 Sekunden! Nach der Auszeichnung als Hamburger Sportler des Jahres rannte der Sprinter zum Glück zu uns ins Studio.
Text: Marco Arellano Gomes | Fotos: Anatol Kotte
Während des Lesens dieses primären, nicht sonderlich langen Satzes, vom ersten bis zum letzten Buchstaben, sind voraussichtlich etwa zehn Sekunden vergangen. Mehr braucht der schnellste Mann Deutschlands nicht, um 100 Meter hinter sich zu lassen. Sein Name: Owen Ansah. Geboren am 28. November 2000 in Hamburg.
Ansah ist Leichtathlet, obwohl nichts an dem, was er tut, „leicht“ ist. Im vergangenen Sommer, am 29. Juni 2024, erreichte er bei den Deutschen Meisterschaften im Braunschweiger Eintracht-Stadion die Ziellinie der 100-Meter-Strecke in sensationellen 9,99 Sekunden – und brach den acht Jahre währenden Rekord von Julian Reus (10,01 Sekunden). Sein schärfster Konkurrent, Joshua Hartmann (10,06 Sekunden) und die restlichen Mitläufer machten dicke Backen. Und für Owen gilt: Die 10-Sekunden-Marke ist das Eintrittstor zur Weltspitze.
Ansah ist ein bescheidener, zugleich selbstbewusster junger Mann. Seine Lockerheit wirkt natürlich, sein Lächeln ist ansteckend, sein sportlicher Kleidungsstil – Sweatshirt, Hose und Cap in Kaki, schwarze Sneaker – zeigt, dass er wegen des Erfolgs nicht abgehoben ist. Sein Vater kam 1983 von Ghana nach Deutschland, seine Mutter folgte 1992. Gemeinsam mit seinen zwei Schwestern wuchs Ansah in Farmsen-Berne auf. Mit Schulfreunden hing er auf Spielplätzen und in Parks ab, hörte schon damals viel Musik, liebt es bis heute, sich zu dieser zu bewegen – auch beim Training. „Musik macht mir einfach gute Laune“, sagt er. „Und wenn ich gut gelaunt bin, bringe ich auch gute Leistung.“
Im Sportunterricht wählten ihn die Mitschüler stets als Ersten ins Team. Sein Lieblingsspiel war „Dritter Schlag“, ein Fangspiel, bei dem die Fänger versuchen, möglichst viele Läufer abzuschlagen – einmal, zweimal, dreimal. „Ich war quasi der Joker, der am Ende immer das ganze Team wieder zurückgeholt hat. Da fiel auch mir endgültig auf, dass ich schneller bin als die anderen“, sagt er fröhlich und grinst. Sein Vater war ebenfalls Leichtathlet, heute arbeitet er im Miniatur Wunderland. Seinen Sohn motivierte er früh, auch diese Sportart zu betreiben.
Es dauerte aber bis zur siebten Klasse, bis Ansah selbst davon vollständig überzeugt war. Damals standen Weitsprung und Laufen auf dem Lehrplan. Wie so oft ließ Ansah die Mitschüler hinter sich. Nach dem Unterricht fragte ihn sein Sportlehrer, ob er nicht mal Leichtathletik ausprobieren möchte? Und Ansah wollte. Also schrieb er über Facebook Carl-Junior Boateng vom HSV an und fragte, ob er ihn mal begleiten dürfe. Das ging klar. Wenig später schloss er sich dem Athletik Team Hamburg an. 2019 wechselte er zum HSV und lernte dort seinen jetzigen Trainer kennen: Sebastian Bayer, ein ehemaliger Weitsprung-Europameister – vertrauenswürdig, erfahren, fordernd.
Ansahs Vorbild ist Usain Bolt aus Jamaika, noch immer der Weltrekordhalter über 100 Meter und 200 Meter. Sechsmal die Woche trainiert Ansah. Der Trainingsplan hat es in sich. Montag: Krafttraining. Dienstag: Technikeinheit. Mittwoch: Stabi-Regenerationseinheit. Donnerstag: Tempoläufe. Freitag: Krafttraining. Samstag: Beschleunigung.
Nur Sonntag ist für den Körper mal Erholung angesagt. Das Hauptaugenmerk beim Training liegt aktuell beim Laufen auf den ersten Metern. „Ich komme beim Start noch nicht perfekt raus“, gibt Ansah zu. Seine Stärke liegt im sogenannten fliegenden Bereich, ab 40 Metern. Dann nimmt er irre Tempo auf, ist nicht mehr zu bremsen, fliegt geradezu davon. Ansah läuft regelmäßig die 100 Meter und auch die 200 Meter, die er sogar lieber mag. Seine Höchstleistungen schafft er, sobald es ernst wird: „Ich bin ein Wettkampf-Typ“, sagt er. „Ich brauche diesen Kick. Das Gefühl, dass links und rechts meine Konkurrenten stehen.“
Vor vier Jahren verließ er dann Hamburg vorübergehend, denn sein Trainer Sebastian Bayer wechselte zuvor nach Mannheim, wurde Bundestrainer beim Deutschen Leichtathletik-Verband. Owen und sein Trainingspartner Lucas Ansah-Peprah folgten ihm. „In Hamburg gibt es viel Ablenkung durch die Freunde und meine Familie. In Mannheim nicht“, so Ansah. Deshalb kommt er heute nach Hamburg, um seine Liebsten zu besuchen.
Der erste Deutsche zu sein, der die 100 Meter in unter 10 Sekunden gelaufen ist, bedeute ihm viel, sagt Ansah. Der Rekord mag irgendwann gebrochen werden, aber er wird für immer der Erste sein, der eine solche Zeit lief. Das könne ihm keiner mehr nehmen. Und er ist überzeugt, dass er noch schneller sein kann. Immerhin war er vor dem Rekord lange verletzt und hatte nur vier Monate Zeit gehabt für sein Training. Ansah vertraut seinem Team, den Ärzten, seinem Trainer – und Gott.
Bei den Olympischen Spielen in Paris im vergangenen Jahr war Ansah immerhin schon dabei. Aber Dabeisein ist eben doch nicht alles. Bei der nächsten Weltmeisterschaft vom 13. bis 21. September in der japanischen Hauptstadt Tokio und den kommenden Olympischen Spielen, 2028 in Los Angeles, will er am Start sein und es bis ins Finale schaffen. Ganz sicher: Bis dahin wird er auch beim Rauskommen aus dem Startblock noch weiter vorn sein.
Helfen Rituale, um seinen Erfolg zu erreichen? Ansah grinst. Ein Ritual habe er tatsächlich: Vor jedem Wettkampfrennen isst er abends eine Thunfischpizza. Das klingt im ersten Moment nicht zwingend wie die Mahlzeit eines Spitzensportlers. Thunfisch aber leitet sich vom altgriechischen Wort thýnnos ab, was so viel bedeutet wie: „Ich eile“, „Ich rase“, „Ich schieße entlang“. Kurze Hintergrund-Info dazu: Die Raubfische selbst erreichen auf kurzen Strecken bis zu 80 Stundenkilometer. 100 Meter legt der Thunfisch somit in 4,5 Sekunden zurück. Mal sehen, wann das erste Restaurant in Hamburg die Ansah-Pizza anbietet – vom Steinofen bis zum Tisch in nur 9,99 Sekunden.