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Goldjungs
MÄNNERCHOR
100 Männer, keiner kann singen. Mit diesem Konzept haben die Hamburger Goldkehlchen in den letzten neun Jahren die Stadt erobert. Nach der ausverkauften Barclays Arena wartet nun die Elbphilharmonie – und 2026 das große Finale. Über Gemeinschaft, Lebensfreude und die Harmonie der schiefen Töne.
Text: Regine Marxen | Fotos: Anatol Kotte
Diesen Artikel finden Sie in Ausgabe 69
Das Weihnachtskonzert in der Elbphilharmonie. Seit dem ersten Tag ihres Bestehens haben die Hamburger Goldkehlchen davon geträumt. Neun Jahre lang gab man ihnen einen Korb, 2025, am 17. Dezember, wird ihr Traum wahr. Den Stadtpark? Den haben die Jungs gleich mehrfach ausverkauft. Die Tickets für ihren Auftritt in der Barclays Arena im September dieses Jahres waren nach rund 75 Minuten vergriffen.
15.000 Menschen passen da rein, ihr bisher fettester Gig. Ziemlich beachtlich für einen Chor, dessen Motto „100 Männer, keiner kann singen“ alles andere als hanseatische Bescheidenheit, sondern die simple Wahrheit ist. Was, fragt sich nicht nur Chorpräsident und Mitbegründer Flemming Pinck, soll da noch kommen? Das Konzert im Volksparkstadion. Im September 2026. Mit 57.000 Zuschauern. So der Plan. Ein fulminanter Ort, um zehn Jahre Hamburger Goldkehlchen zu feiern. Und der perfekte Zeitpunkt, um Tschüss zu sagen.
„Ganz ehrlich, was in den letzten Jahren geschehen ist, können wir selbst kaum glauben.“ Dass dieses Chor-Ding so nach vorne geht, hat auch Flemming Pinck nicht erwartet, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß. Kein Wunder, die Geschichte klingt fast wie ein Märchen: Pinck und sein Kumpel Max Michel treffen sich 2016 in der Kult-Karaoke-Bar „Thai Oase“ auf dem Kiez. Sie kennen sich schon lange, zwei Typen, eine Seele. Es ist eine dieser unbeschwerten Nächte voller hopfengestärkter Spinnereien.
Zum Beispiel, einen Männerchor zu gründen. Das Ziel: Spaß haben bei hohem Coolness-Faktor mit wohltätigem Zweck. Sie starten einen Aufruf auf Facebook, 150 Männer wollen mitmachen, sechs Chorleiter auch. Rund 70 davon schaffen es in den Chor, Christian Sondermann, Spitzname Thunder, übernimmt als Chorleiter die Stimmführung. Im Eiltempo erobern die Hamburger Goldkehlchen immer größere Bühnen, wachsen auf 100 Mitglieder an, schenken ihrer Stadt den Lovesong „Moin, Moin, Hamburg“ und gehen damit in der Hansestadt viral. Beim ESC wollen sie mitmachen, kommen aber nicht in den Vorentscheid. Egal. Stattdessen treten sie mit Bosse, Johannes Strate, Max Giesinger, Sebastian Krumbiegel, Apache 207 und Rolf Zuckowski auf. „Eine Legende“, sagt Flemming. „Und Oli P., der netteste Typ überhaupt.“ Und das alles, obwohl in diesem Chor wirklich keiner zur Gesangskarriere taugt. Wie kann das sein? Weil sie glücklich machen, sagt Bongiwe Malunga. Die Musikerin spielt die Rolle der weisen Rafiki im Musical „Der König der Löwen“. Und sie eröffnete mit der Hymne „Circle of Life“ gemeinsam mit den Goldkehlchen deren Konzert in der Barclays Arena. Kennengelernt haben sie sich backstage nach einem Auftritt beim Hafengeburtstag. Malunga verfiel sofort dem musikalisch ungestümen Charme der Männer-Kombo. „Es ist ihre Energie. Selbst wenn sie falsch singen, klingen sie gut.“ Vor dem gemeinsamen Konzert haben sie und die Jungs den Song geübt, an einem Montagabend in der Betriebsstätte Barner 16 auf einem Ottensener Hinterhof.
„Sollen wir lauter singen?“, fragte ein Goldkehlchen nach dem ersten Durchlauf zu Beginn der Probe. „Nein“, antwortete Bongiwe Malunga, ein dickes Ausrufezeichen in der Stimme. Laut können sie. Diesen Haufen zur Ruhe zu bringen, ist nicht immer leicht. Das ist auch an diesem Abend so. Während einige Männer konzentriert aufs Handy starrten, Stichwort Textsicherheit, hampelten andere feixend in der letzten Reihe.
Irgendjemand holte sich derweil noch fix ein Bier aus der Kiste vorne. „Man braucht pädagogische Tricks“, verrät Paul Jungeblodt, seit September 2024 Chorleiter und Goldkehlchen-Dompteur. Die hat er drauf, Profi eben. „Zum Beispiel immer leiser zu werden beim Sprechen. So werden sie auch leiser.“
Er habe noch einmal ein anderes Niveau in das Projekt gebracht, stellt Flemming fest. „Dank Pauls Arbeit klingt der Chor hörbar besser, das merken wir sogar selbst.“ So richtig treffsicher tönt die Gang dennoch nicht. Die Zuschauer stört’s nicht.
Das Konzert in der Barclays Arena jedenfalls war eine Riesenparty, Fan-Schals, gesponsert von der Sportmarke mit den drei Streifen, wirbelten durch die Luft, verzückte Gesichter auf und vor der Bühne, dazu Feuerfontänen und Lametta. Wissenschaftliche Studien belegen, dass beim Singen Glückshormone wie Endorphine, Serotonin, Dopamin und Oxytocin ausgeschüttet werden. So also sieht das in der Realität aus.
Glück allein aber hat die Hamburger Goldkehlchen nicht bis in die Barclays Arena getragen. Ein wenig Ehrgeiz plus eine Extraportion Arbeit stecken auch dahinter. Inzwischen, sagt Flemming, nehme der Chor die Hälfte seiner Wochenarbeitszeit ein.
Als Präsident und erster Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins, der sich hinter den Hamburger Goldkehlchen verbirgt, ist er derjenige, der alle Projekte überblickt. Zum Beispiel, wohin die Spenden fließen. Alle generierten Einnahmen, die nicht für den Erhalt des Chors und dessen Auftritte benötigt werden, kommen sozialen Projekten aus Hamburg zugute. 2024 haben sie so nach eigener Aussage über 100.000 Euro für verschiedene soziale Organisationen sammeln können.
Während des Konzerts in der Barclays Arena riefen sie beispielsweise zu Spenden für die Barner 16 auf und steuerten selbst 10.000 Euro aus der Vereinskasse bei. Flemming öffnet Türen zu Partnern und verhandelt mit Sponsoren, leitet zusammen mit seinem besten Freund Max Michel den Chor, führt als Moderator durch die Shows. Und er liefert Songideen. Veredelt und produziert wird das Ganze dann von 2wei Music. Flemming ist die treibende Kraft hinter dem Konstrukt, aber er stemmt den Laden nicht allein. „Wir sind wie eine 100-Mann-Company.“
Jedes Mitglied bringt sich auf seine Weise ein, mit Kontakten, Impulsen, tatkräftiger Unterstützung. Neben einem gewissen Entertainment-Talent ist genau das eine der Voraussetzungen, um überhaupt ein Goldkehlchen werden zu dürfen. Einmal im Jahr lädt der Chor zum Casting. Wer besteht, darf sich für ein Jahr als Freshkehlchen beweisen. Nur wer sich verlässlich im Verein einsetzt, wird vollwertiges Goldkehlchen. Bis dahin ist auch die Kutte mit dem Vereinslogo, gelber Kreis mit Totenkopf, der eine Blume im Mund hält, nur geliehen. Das Netzwerk, das so entsteht, ist eine der wichtigsten Zutaten für den Erfolg, weil es die unterschiedlichsten Kompetenzen zusammenbringt, von Video über Social-Media-Strategien bis Eventorganisation.
Letzteres ist das Steckenpferd von Vizepräsident Markus Tiedemann. Das Konzept für die Show in der Barclays Arena hat er minutiös durchgeplant. Auf seinem Oberarm prangt ein Tattoo mit dem Goldkehlchen-Logo. Kein Einzelfall, den Totenkopf mit Blümchen hat sich so manches Mitglied in die Haut ritzen lassen. Flemming auch, auf dem rechten Arm über den Buchstaben IR, den Insignien seiner Modemarke Inferno Ragazzi. Links gegenüber hat er sich eine Zahlenkombination tätowieren lassen, die genaue Anzahl der Minuten, bis das Konzert in der Barclays Arena ausverkauft war. Goldkehlchen zu sein, das ist eine Lebenseinstellung.
Und im Jahr 2026, zum zehnjährigen Bestehen, soll das alles dann einfach so enden? Ja, sagt Flemming. Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Das Konzert im Volksparkstadion soll der glamouröse Schlusspunkt sein. Und dann? „Legen wir uns erst mal kurz auf die Liege und lassen die letzten zehn Jahre auf uns wirken. Denn die waren echt ein wilder Ritt.“












