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Haltung
100 JAHRE
Seit 100 Jahren trotzt die „Oberhafen-Kantine“ mit schiefem Stand Sturmfluten, Zeitgeist und Abrissplänen. Ein Hamburger Original voller Geschichten – geht es nach Betreiber Sebastian Libbert und Inhaberin Julia Kretschmer-Wachsmann, sind die noch lange nicht auserzählt.
Text: Regine Marxen | Fotos: Jan Northoff
Diesen Artikel finden Sie in Ausgabe 69
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„Die ,Oberhafen-Kantine‘ war damals unser zweites Wohnzimmer“, sagt Ingo. 43 Jahre hat er „in der Frucht gearbeitet“, erst im Fruchthof direkt gegenüber, später wechselte er zu anderen Unternehmen. Die „Oberhafen-Kantine“ war immer da für ihn. 2025 feiert das schiefe, backsteinerne Schmuckstück seinen 100. Geburtstag, und Ingo will es sich nicht nehmen lassen, ihm als einstiger Stammgast zu danken. Deshalb ist er der Einladung von „Oberhafen-Kantinen“-Wirt Sebastian Libbert gefolgt, denn heute wird die Eröffnung der Ausstellung „Haltung“ gefeiert, die dem zweistöckigen Häuschen Tribut zollt. Eigentlich geht der Dank an Wirtin Anita Haendel, die dieses Haus über 72 Jahre geführt hat, bis zu ihrem Tod im Februar 1997, einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag. Eine starke Frau mit Haltung, sagt Sebastian Libbert.
Mitunter eine sture Frau, sagt ihr Sohn Bernd. „Ihr Bauernfrühstück war toll“, fügt sein Bruder Dieter hinzu.
Die beiden sitzen zusammen mit Sebastian und Ingo auf einer Bank in der Oberhafen-Galerie, die sich gleich neben dem steinernen Geburtstagskind befindet, umgeben von Fotos und gerahmten Textfragmenten aus einem Jahrhundert „Oberhafen-Kantinen“-Geschichte. Erlebt hat die Kantine einiges, die Jahre haben Spuren hinterlassen, und die Geschichten, die sie erzählt, sind emotional genauso vielschichtig wie die Ur-Wirtin Anita Haendel selbst. Zwischen fünf und sechs Grad Neigung hat das Gebäude laut Libbert, dafür haben die Hochwasser der Vergangenheit gesorgt. Es scheint kuscheln zu wollen mit der benachbarten Bahnbrücke und sorgt mit seinem Schiefstand dafür, dass die Züge an dieser Stelle ein wenig auf die Bremse treten müssen. Einen Störfaktor nennen das einige, Charakter die anderen. Denn dieses Schief-sein gehört ja zum Leben dazu, ohne Spuren und Blessuren kommt da keiner raus. Vor allem aus diesem Leben.
Könnten die Mauern der „Oberhafen-Kantine“ sprechen, was würden sie erzählen? Vielleicht würden sie von ihrem Bauherrn Hermann Sparr berichten, der laut Ausschanklizenz im Sommer 1925 hier das erste Bier ausschenkte. Oder den ersten Kaffee, denn eigentlich handelte es sich bei dem Gebäude um eine Kaffeeklappe. Ursprünglich sollten die dazu dienen, den Alkoholkonsum unter Arbeitern zu reduzieren. Statt Bier gab es Kaffee sowie einfache, günstige Mahlzeiten. Die „Oberhafen-Kantine“ war ein freiwilliges Mitglied im Verein der Hamburger Volkskaffeehallen. Mit ihren rund 30 bis 40 Sitzplätzen – damals gab es die gute Stube im ersten Stock noch nicht – war sie weitaus kleiner als die anderen Klappen, die teilweise bis zu 500 Menschen Platz boten. Ganz auf das Geschäft mit dem kühlen Blonden konnte und wollte Sparr in seinem Lokal nicht verzichten. Auf Kümmel und Korn auch nicht. Die Kundschaft wusste das zu schätzen. Das Oberhafenareal war damals um einiges lauter und wuseliger als heute. Millionen von Ziegelsteinen – für den Bau des Chilehauses, das zeitgleich unweit der Kantine entstand – wurden mit Lastkähnen aus Ziegeleien herangebracht und direkt im Oberhafen entladen.
Man munkelt, einige von ihnen wären, im Tausch gegen die eine oder andere Kanne Bier, gleich ganz bei der „Oberhafen-Kantine“ verblieben und dort verbaut worden. Hunderte von Pferdefuhrwerken verließen tagsüber das Bahnhofsareal, mit Stückgütern, die über den Hauptgüterbahnhof Hamburg ankamen. Der benachbarte Obst- und Gemüsemarkt in und an den Deichtorhallen sorgte ebenfalls für Betrieb. Die „Oberhafen-Kantine“ war mittendrin und für die zahlreichen Fuhrleute, Händler, Einkäufer und Arbeiter der angrenzenden Betriebe und Lagerhäuser ein verlängertes Wohnzimmer. Anita Haendel, Tochter von Hermann Sparr, sollte diesen Ort prägen wie keine Zweite. Kein Wunder, sie hat ihr Leben hier verbracht. Mit zwölf Jahren begann sie, in der „Oberhafen-Kantine“ zu arbeiten. Sparr nahm sie von der Schule, damit sie im heimischen Betrieb anpacken konnte. 1930 verstarb er, ihre Mutter Marie Sparr übernahm das Ruder, gemeinsam mit Anitas zweitem Bruder Paul. Anita selbst absolvierte derweil eine Ausbildung in der Gastronomie, arbeitete unter anderem im Hotel Louis C.
Jacob und im Kurhotel auf Helgoland. Paul fiel 1941 in Russland, Anitas ältester Bruder Hermann junior blieb an der Ostfront vermisst, sodass Anita, inzwischen selbst Mutter zweier kleiner Kinder (Dieter, geb. 1940, und Bernd, geb. 1942), zunehmend in der „Kantine“ unterstützte. 1945 nahm sich Marie Sparr das Leben, zu groß waren die Verluste, die der Krieg ihr zugefügt hatte. Anita übernahm das Lokal, zusammen mit ihrem Mann Günter, der 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war. Mutter und Unternehmerin in einem Land, das sich neu finden musste. An einem Ort, der regelmäßig überflutet wurde.
Die Küche liegt bis heute im Keller, jedes Hochwasser glich und gleicht einem Neuanfang. Alles nicht leicht. Ende der 60er-Jahre verließ Günter Haendel seine Frau. In Günther Engel und Marianne Volkmann fand sie Mitstreiter, die die Kantine liebten wie sie. Zusammen führten sie die „Oberhafen-Kantine“ in neue Zeiten. Denn die Einführung des Containerverkehrs hatte den traditionellen Stückguttransport per Eisenbahn verdrängt, und der Straßengüterverkehr wurde liberalisiert. Weniger Verkehr im Hafen bedeutet weniger Gäste im Lokal. Jedoch formierte sich am nahe gelegenen Lohseplatz, Umschlagplatz für Osteuropa-Transporte, neue Kundschaft. Die dort eingesetzten Fahrer brachten eine neue politische Gesinnung mit, und das lockte 68er-Intellektuelle, Filmschaffende und die Kulturszene an.
So ging es weiter – bis zum Tod Anitas. „Tschüs, das war’s“, titelte eine Hamburger Zeitung 1997. „Die Kantine ist dicht – geschlossen und versiegelt vom Ordnungsamt.“ Einsturzgefahr. Die „Oberhafen-Kantine“ lag gestrandet am Hafenrand, bedroht vom Abriss. Die Deutsche Bahn warb um das Gelände, um die Oberhafenbrücke zu verbreitern. Bernd Haendel, der das Gebäude zusammen mit Dieter geerbt hat, wollte die Kantine retten. Er bot sie der Stadt als Geschenk an – mit der Zusage, es zu erhalten. Immerhin sei es doch eine der letzten existierenden Hamburger Kaffeeklappen. Das Denkmalschutzamt wurde neugierig – und nahm die Kantine unter seine Fittiche. 2002 erwarb Klausmartin Kretschmer das schiefe Häuschen für einen Euro. Eine symbolische Zahl, die Sanierungskosten betrugen rund eine Million Euro. Kretschmer brachte die alte Lady wieder in Schuss und legte dabei Wert auf Details. In der Küche ließ er zum Beispiel ein buntes Kachelschild anbringen. Die Kachelsinfonie, inspiriert vom Film „A Beautiful Mind“, jeder Musikton wurde in einen Kachelfarbton übersetzt. Außerdem wurde die Kantine mit einem Betonfundament verstärkt. Stichwort Haltung. Denn die Nähe zum Hafen und die Gefahr von Sturmfluten begleiten das Gebäude bis heute. Anita Haendel ist mit ihrer Küche zahlreiche Male abgesoffen. Zum Schluss verzichtete sie darauf, die Geschirrspülmaschine zu erneuern, die ging eh jedes Mal kaputt. Also spülte man eben von Hand.
Tim Mälzers Mutter Christa übernahm 2006 die frisch sanierte Kantine – und gab schon bald darauf auf, weil die Sturmtiefs „Tilo“ (2007) und „Emma“ (2008) den Betrieb zum Erliegen brachten. Ihr folgte der Gastronom Thorsten Gillert, der auch nicht richtig warm wurde mit dem Gebäude. Seit 2011 leitet Sebastian Libbert die Gastronomie. 2013 fegte „Xaver“ über das Land. Im Erdgeschoss der „Oberhafen-Kantine“ stand das Wasser bis zu den Fenstersimsen, die Küche war komplett vollgelaufen. Die Kachelsinfonie löste sich von den Wänden, die abgehängte Decke brach teilweise ein. Ein Fall für die Versicherung? Fehlanzeige. Viele hielten das für das Ende der „Kantine“. Libbert nicht. Es sollte nicht die letzte Sturmflut sein, die er hier erlebte. Er ist immer noch da. Warum? Ganz einfach: Liebe.
Die Liebe. Sie lässt dich fliegen, auch mal untertauchen, verlangt Haltung. Die hat Sebastian Libbert, er fühlt sich dem Geist Anitas verbunden. Ein Typ mit Meinung und dem Willen, sie auch kundzutun. Ein Gastgeber mit Herz, der mit Akribie am Optimum feilt. Hamburg hat er zuvor so eigensinnig-schöne Orte wie das „Rialto“ an der Michaelisbrücke oder die „Weltbühne“ im Thalia Theater bereitet. Die „Oberhafen-Kantine“ passt perfekt in diese Riege. Charakter hat das Haus, mit all seinen Herausforderungen. Denn so, sagt er, würde man heute keinen gastronomischen Betrieb mehr planen. Mit schmaler Treppe in den Keller, zur Küche. Mit schmaler Treppe in den ersten Stock, in die gute Stube. Der handbetriebene Speiseaufzug mit Fußbremse hinter der Schanktheke geht zwar noch, ruckelt aber ziemlich. „Da fliegt dir der Matjes vom Teller.“ Suboptimal. Aber das Haus hat nun mal seine eigene Handschrift, auch kulinarisch gesehen. Anita Haendel war bekannt für ihre Frikadellen. Ein Pfund Hack und drei Brötchen, lautete ihr Rezept. Libbert hat es leicht überarbeitet, Frikadellen gibt es aber immer noch, genau wie Labskaus. Oder Hamburger Weißwürste nach eigenem Rezept. Die sind historisch gesehen älter als die bayerische Variante, haben französische Wurzeln und umfassen Kalbfleisch, Schweinespeck, Bismarckhering und Matjes, verfeinert mit einem rauchigen Finish. Gibt es so nur in der Kantine.
Kretschmers Frau Julia hat diesem Hamburger Original sogar einen Song gewidmet. Der „Oberhafen-Kantine“ sowieso, seit ihr Mann das Haus erwarb, gehört es quasi zur Familie. „En beten scheef hett Gott leef“ heißt er. Julia Kretschmer-Wachsmann ist Sopranistin und Musikwissenschaftlerin, die Kantine ein Ort, der Kreativität befeuern kann, gerade weil sie so schräg ist. Früher, als der Oberhafen sich als Quartier neu zu entdecken begann, haben sie und ihr Mann hier gelebt, am Ende des Areals. Schon damals war die Kantine eine Art Schleusenwärterin, die Welt dahinter unbekanntes Terrain für die meisten. Das hat sich verändert. Gewerbe und Kreative haben sich angesiedelt, wenig Glattgebügeltes.
Das, sagt sie, solle bitte auch so bleiben. Libbert und Kretschmer-Wachsmann wünschen sich mehr Respekt, Freiraum und Unterstützung von der Stadt, für den Oberhafen – und für die Kantine. „Wir haben hier viel in den letzten Jahren getüftelt und Ideen prüfen lassen“, sagt Sebastian Libbert, „es liegen ernsthafte Pläne vor, wie man die ,Oberhafen-Kantine‘ versetzen und/oder anheben könnte, um sie langfristig zu erhalten.“ Dass das geschehen muss, steht für die beiden außer Frage. Sturmfluten werden nicht seltener, jede einzelne von ihnen verursacht hohe Kosten, bindet Ressourcen, die sinnvoller eingesetzt werden könnten. „Und es schadet dem Gebäude.“ Doch egal, wo die „Oberhafen-Kantine“ in Zukunft ihr Fundament finden wird, eines ist sicher: Sie bleibt schief, ehrlich und standhaft im Geiste.
Happy Birthday, altes Haus.















