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Gängeviertel
Es gibt nicht so viele Orte in der Stadt, wo Menschen beharrlich versuchen, ein Leben abseits der kapitalistischen Prinzipien zu führen. Ein Leben ohne die vielen negativen Eigenschaften, die ständiger Leistungsdruck und die Not zum Erwerb von Statussymbolen für die Seelenruhe bedeuten. Oder positiv formuliert: wo Gemeinsinn und gegenseitige Hilfe das Mitein-ander bestimmen, wo Teilen und Fairness wichtiger sind als Wettbewerb und Hierarchien. Eine solche Insel will das Gängeviertel sein. Ein Ort der Utopieerprobung. Kunst und Kultur sollen in dieser Freigeister-Enklave den Sinn der Gemeinschaft liefern und nicht Karriere und Konkurrenz. Kaum jemand hier hängt noch dem Glauben an, dass Streben nach Besitz wirklich Glück erzeugt.
Spaziert man mit Leuten dieses Kollektivs durch die zurückeroberten Baureste der alten Hamburger Arbeiterkultur, die einst große Teile der Alt- und Neustadt prägten, dann wird immer wieder und von den unterschiedlichsten Menschen betont, wie herrlich anders hier gelebt wird. Aus den winzigen Butzen,
in denen vor dem Krieg ganze Familien unter unschönen sanitären Bedingungen zusammenge-
pfercht wohnten, sind inzwischen Ateliers entstanden. Die schmalen Überbleibsel günstiger Wohnquartiere am Valentinskamp sind damit eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, im Zentrum der Stadt Kultur zu produzieren, ohne durch Vermieter arm zu werden. Es kostet zur schmalen Miete nur
einige Mithilfe.
Schon der äußere Eindruck stellt klar, dass freie Kreativität die Hausordnung auf diesem Areal ist und nicht Verbote oder Zugangsberechtigungen. Im Gegensatz zu den gläsern verschlossenen Bürohäusern,
Behörden und Hotels in der direkten Nachbarschaft ist das gedrungene Backsteinviertel aus vergangener Zeit offen für alle. Das Entree zum Inneren des Viertels über Schierspassage zeigt diese Freiheit sofort jedem Passanten in ganzer Pracht. Der Tunnel mit Tonnengewölbe präsentiert eine kunterbunte Galerie aus sich immer wieder erneuernden Zeichen. Street-Art, Poster, Graffitis, Flugblätter, Parolen und drei auffällige rote Leuchtbuchstaben dekorieren den Gang: „WOW“ strahlt von der Wand ein Versprechen, das sich in vielen Formen von großen Wandgemälden bis kleinen Skulpturen auf dem gesamten Gelände erfüllt.
Gleich dahinter beginnt die Kollektiv-Historie. Eine mit Teppichresten, Puscheln und kleinen Geistwesen dekorierte Mini-Bar verbirgt den Zugang zu jenem Keller, in dem sich die späteren Besetzer vor 15 Jahren das erste Mal verschworen. Um den drohenden Abriss der denkmalwerten Gebäude zu verhindern und einen Kultur- und Lebensort inmitten dieses recht eintönigen Bürostandorts zu schaffen, wurden die Gebäude am 22. August 2009 von 200 Menschen besetzt. Als „kulturelle Inbesitznahme“ bezeichneten die Künstlerinnen und Künstler den Vorgang. Über den langen Weg von diesem Akt des zivilen Ungehorsams zum Rückkauf des Ensembles von einem holländischen Investor durch den Senat bis zu den teilweise konfliktreichen Gesprächen, wie die Selbstverwaltung und die Sanierung des sehr maroden Gängeviertels sich gestalten solle, wird dann am nächsten Hauseingang von Schierspassage informiert.
Stephan Fender betreut hier ein kleines Quartiersmuseum, das außen auf der Wand wie innen in drei Zimmern die lange Geschichte des Genius loci erzählt. Auf Rolltafeln zu Stichpunkten wie „Vollversammlung“ oder „Buschfunk“ und mit akustischen Erzählposten vermittelt diese Geschichtswerkstatt aber nicht nur einen historischen Schnelldurchlauf über bescheidenes Dasein in einer reichen Handelsstadt. Fenders kleine, aber feine Installation liefert auch einen erstaunlich ehrlichen Einblick in die Konflikte eines Projekts, das über Konsens zu Entscheidungen kommt. An den Audiostationen erzählen diverse Stimmen, was sie motiviert, sich hier Freiräume zu gestalten, aber auch, wie mühsam Erfolge durch Diskussionen manchmal erkauft sind.
Doch im Weitergehen vermitteln Ateliernutzerinnen eher einen sehr positiven Eindruck, wie viel Befriedigung ihnen dieses Projekt gewährt, selbst wenn der Weg dahin manchmal nervt und das unbezahlte Engagement für das Projekt belastend sein kann. Jessica Leinen, die ihr Atelier über dem Museum seit vielen Jahren hat, produziert hier Keramiken und Papierarbeiten und bezeichnet die arbeitsame Stätte als ihren Lebensmittelpunkt. Ein Haus weiter zeigt sich die internationale Vernetztheit der Künstlergemeinschaft durch eine Nutznießerin ihres Residenzprogramms. Die Venezianerin Barbara De Vivi malt in den Räumen ihrer Arbeiterwohnung Frauen in den Posen manieristischer Gemälde, aber in den Farben von Discobeleuchtung.
Um die Ecke in der Speckstraße wird ein weiteres, fast fertig saniertes Wohnhaus ebenfalls gemischt genutzt. In dem Gründerzeitgebäude wurden Clusterwohnungen durch Wanddurchbrüche geschaffen, um kollektive Wohnformen zu ermöglichen. Und im Hochparterre befindet sich eine der Galerien des Projekts, wo das Kuratorenteam „Motto“ Gruppenausstellungen zu Themen wie „Mutter“, „Tier“, „Essen“, „Sport“ oder „Tag und Nacht“ in den Zimmern und ehemaligen Abstellräumen entwickelt.
Auch Christine Ebeling, seit vielen Jahren als Gängeviertel-Sprecherin ein bekanntes Gesicht der Gemeinschaft, organisiert einen Ausstellungsraum für wechselnde, oft internationale Ausstellungen. Das MOM befindet sich in der sogenannten Fabrique, dem Veranstaltungsturm des Gängeviertels. In der ehemaligen Gürtelfabrik verbinden sich der Konzertsaal WOW und ein Kellerclub, eine freie Probebühne, Seminarräume und der Amargi Culture Space von Amer Saba, wo es veganen Mittagstisch nach syrischer Art gibt, zu einem stadtoffenen Kulturangebot. Alle Gäste zahlen für Räume und Getränke nur so viel, wie sie sich leisten können. „Pay what you can“ ist hier das sozialverträgliche Motto.
Ein besonderer Anziehungspunkt in der denkmalgeschützten Kulturmanufaktur ist die einzige handwerkliche Nachnutzung, die Farbfabrique. Marco Hosemann und Sebastian Fuchs leiten an Siebdruckmaschinen und großen Rahmen Jugendliche an, ihre eigenen Hoodies und Poster zu gestalten und zu produzieren, oder stellen Plakate und Broschüren her für vielfältige politische Initiativen innerhalb und außerhalb der Kulturgemeinschaft. Das Gängeviertel war von Beginn an mit vielen Aktionsbündnissen vernetzt, die sich für eine gerechtere und solidarische Stadt mit weniger Abrissen und mehr Bürgerbeteiligung einsetzen. Und mittlerweile ist das Motto „Komm in die Gänge“ als Ruf international so gehört, dass die Programmgruppen Anfragen von Taipeh bis San Francisco erhalten, um im WOW aufzutreten oder im MOM auszustellen. Mit dieser Erfolgsgeschichte will diese vibrierende Gemeinschaft durchaus auch andere anstacheln.
„Das Gängeviertel könnte noch ein bisschen mehr Vorbild sein“, sagt dazu René Gabriel, ein weiterer der Sprecher des Vereins, der die Selbstverwaltung der zwölf Häuser organisiert. Und zwar über die Sphären einer innovativen Kulturszene hinaus: „Denn abseits der kapitalistischen Verwertung von Gebäuden entwickeln wir hier ein wirklich anderes Potenzial von Zusammenleben.“ Lähmende Normen und Standards werden als einengend abgelehnt. Selbstverwirklichung ist der Gruppenethos, nicht Anpassung. Und unvermeidliche Konflikte werden geduldig gelöst. Das gelingt nicht immer, aber oft.
Das bildet sich dann auch in sehr überraschenden Nachbarschaften ab, die woanders in der Stadt weder erwünscht sind, noch genehmigt würden. In den Ladenflächen zur Caffamacherreihe im sogenannten Kupferdiebehaus zum Beispiel finden sich Tür an Tür eine Malwerkstatt für sozial benachteiligte Kinder, der „Born to fly e.V.“, und der feministische Sexshop „Fuck yeah“. Aber auch dieser originelle Spielzeugladen mit seinen bunten Sextoys will schließlich Motivationshilfe für mehr Kreativität leisten. Also gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den scheinbar so gegensätzlichen Nachbarinnen, die woanders aus falsch verstandener Rücksicht nicht bemerkt werden, aber hier die Möglichkeit ihrer friedlichen Koexistenz beweisen können.
Anders als ihre Vorgängerin in Sachen Hausbesetzung, die Hafenstraße, entstand das Gängeviertel nicht aus bockigen Barrikadenkämpfen zwischen Bewohnern, Stadt und Polizei. Und diese andere Vorgeschichte bestimmt auch klar das Klima in den bunt mit unverkäuflicher Kunst geschmückten ehemaligen Abbruchhäusern. Die Menschen, die in diesem urbanen Alternativquartier ein Gegenbild zur Warenkultur leben wollen, sind durchgängig herzlich, offen und an Austausch mit allen interessiert.
Zum Paradies fehlt nur die Sorgenfreiheit. Aber die ist leider auch mit diesem Modell gemeinsamer Selbstverwirklichung nicht zu haben. Der Kummer wird verursacht durch das wichtigste Medium der sie umgebenden Gesellschaft: das Geld. „Alle, die hier mitarbeiten, leben in mehr oder weniger prekären Verhältnissen“, sagt etwa Liz Rech vom Kollektiv „Freie Probebühne“, das einen mittlerweile professionell sanierten Saal oben in der Fabrique bespielt. Doch trotz teilweise drei Nebenjobs und großer Selbstausbeutung stiftet der schöne, helle Raum mit dem Tanzboden allen Beteiligten so viel positive Energie, dass die Not, ständig bei Staat und Stiftungen um Förderung betteln zu müssen, um die Probebühne auch für Projekte mit kleinem Budget offenzuhalten, den Enthusiasmus nicht ersticken kann. Aber darüber sprechen wollen sie schon.
Denn, so sagt es der Künstler Darko Nikolic, der seit dem ersten Kellertreffen 2009 dabei ist und der im Kutscherhaus unterm Dach sein Atelier hat: „Kunst ist ein Fulltime-Job. Da kann man eigentlich nicht auch noch für umsonst dauernd für das ganze Projekt arbeiten.“ Er hat es trotzdem jahrelang gemacht und weiß: „Ohne das geht es nicht.“ Aber Darko kennt wie alle, die hier geblieben sind, auch den Gewinn der ehrenamtlichen Kraft. Das erstaunlich stabile Leben in einer vielfältigen Gemeinschaft Gleichgesinnter erzeugt einen Reichtum, der jeder hektischen Suche nach materiellen Werten eher fehlt. Albert Schweitzer hat diese Form der unwirtschaftlichen Zufriedenheit einmal auf den Punkt gebracht: Glück ist der einzige Gewinn, der sich verdoppelt, wenn man ihn teilt.
Diesen Artikel finden Sie in Ausgabe 63