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Großmarkt Hamburg

Text: Till Briegelb | Fotos: Julia Schwendner

Warum sind diese Menschen eigentlich alle so gut drauf? Es ist drei Uhr nachts, in den Straßen der Innenstadt ist nur feiner Nebel, sonst nichts, und selbst die ewig krächzenden Hafenmöwen sind still. Aber in diesem gesunden Füllhorn der Stadt herrscht allerorts eine ausgeschlafene Stimmung, als sei Obst- und Gemüsehandel ein Freizeitvergnügen. An den offenen Ständen des Hamburger Großmarkts wird geflachst und gesnackt, ein Blumenhändler wird von einer Kundin umarmt, weil er Geburtstag hat, in allen Gängen herrscht zutrauliche Freundlichkeit, und ein alter Herr mit Fahrrad, der längst nicht mehr arbeiten muss, kommt jede Nacht her, da die Fruchtbörse unter dem Wellendach seit 60 Jahren seine Lebenswelt ist: Willi von Hacht, jeder grüßt ihn.

Überhaupt kennt auf den 40.000 Quadratmetern Handelsfläche jede Nachtigall die andere. Das emotionale Gleichgewicht dieser Gemeinschaft gründet sich maßgeblich da­rauf, dass hier Tradition ein fester sozialer Klebstoff ist, gegen die Flüchtigkeit der Waren, überhaupt, die Flüchtigkeit der Zeit. Willi von Hacht war bei der Eröffnung der imposanten Hallen am 4. Juni 1962 schon hier. Damals war er 21. Seine Kinder führen jetzt den Laden, aber es gibt auch schon dritte und vierte Generationen auf dem Parkett der Äpfel, Salate und exotischen Früchte. Und andere Großväter, die von dem pulsierenden Leben in der Stadt der Transportkistentürme nicht lassen können. Wer nach Hause kommt, wenn andere verschlafen ihren Computer anschalten, der lebt in einer besonderen Aura, einer schattenlosen Neonwelt der Düfte und Geschmäcker, wo sich die Verschworenheit eines Wir-Gefühls nahezu automatisch einstellt.

Wobei das Verschieben der Arbeitszeit ins Nachtaktive bei vielen nicht zu einem Katzenleben führt, wo tags geschlummert wird. Ein Großteil der Händler ist selbst Erzeuger, die man an den gelben Leihkisten erkennt, die sie für 30 Cent Pfand vom Großmarkt erhalten. Christian Meyer etwa, der hier rund eine Million Salatköpfe pro Jahr verkauft, frisch geschnitten von der Anbaufläche seines Familienbetriebs in Moorwerder, schläft höchstens im Winter richtig. Jetzt steht er um 22.15 Uhr auf, fährt nach Hammerbrook, kehrt zurück, um seine Kinder in die Schule zu bringen, und steht danach schon wieder auf dem Feld. Wochenarbeitszeit? 100 Stunden.

Der normale Schlafrhythmus eines Großmarkthändlers während der Saison sei zwei Stunden vor der Arbeit und zwei Stunden danach, wird kolportiert. Manchmal mögen es auch drei sein. Allerdings ist die Saison ja längst künstlich verlängert in eine einzige Konsumenten-Jahreszeit. Da Menschen auch im Winter Salat, Rosen, Himbeeren und Gurken wollen, ja eigentlich auch Papayas und Ananas im Sommer, wenn in den Erzeugerländern der Südhalbkugel gerade Winter ist, wird überall, auch im fruchtbaren Hamburger Umland, mit dem Klima getrickst. Denn das Wetter kann uns mal, seit Sir Joseph Paxton 1828 das Gewächshaus erfand, Glas-Stahl-Gärten, die er später zu dem berühmten Kristallpalast in London erweitert hat. „Vier Jahreszeiten“ sind deshalb im Agrarsektor nur noch ein Musikstück von Vivaldi oder der Name eines Hotels.

Farbwechsel gibt es in den 180 Meter langen Hallen trotzdem immer noch. Im Herbst etwa erleuchten die Flächen orange, wofür neben der Lust der Menschen auf Mandarinen zur Vorweihnachtszeit auch die Kürbisernte verantwortlich ist. Aber das ist nur der Auswuchs letzter Reste saisonaler Ernährungstraditionen. Wenn das Lieblingsobst der Deutschen, das auf dem Gelände des Großmarkts in einer der größten und modernsten Reifeanlagen essbar gemacht wird, nicht jeden Tag verfügbar wäre, würde sich garantiert die aktuelle Krisenstimmung noch deutlich verschärfen.
Dabei ist die Banane, die hart und grün in Südamerika geerntet wird, bei 13,3 Grad Celsius über den Atlantik fröstelt, um dann in Hamburg computergesteuert mit dem Reifegas Ethylen in den dezent grün-gelben Verkaufsstatus verwandelt zu werden, der „Farbe 4“ heißt, eigentlich das perfekte Symbol für alle Sünden des globalen Handels. Die technisch erzwungene Essbarkeit einer monokulturellen Plantagenfrucht, die den halben Globus umschiffen muss, um schließlich mit hohem Energie- und Kontrollaufwand so perfekt auszusehen, dass der mäkelige Verbraucher sie nicht beim Händler verschmäht, ist dabei fast noch die weiche Variante des Unnatürlichen, mit dem Mama Erde jeden Tag mehr zu kämpfen hat. Vollreife exotische Früchte in Topqualität, wie sie der anspruchsvolle Gaumen schätzt, werden in Touristenfliegern mitgenommen. Flugware heißt das auf dem Großmarkt, Händlerpreis 40 Euro für acht Mangos aus Singapur.

Doch das sonnenfreie Vegetarierparadies in Hammerbrook kann unmöglich allein mit ökologischen Vernunftargumenten am Leben erhalten werden. Lediglich acht Prozent der hier gehandelten Früchte sind heimischen Ursprungs. Es gibt nur einen echten Biohändler (allerdings viele Anbieter von Biowaren). Und da in der neuen Arbeitswelt trotz vermehrtem Homeoffice kaum noch jemand selbst kocht, dafür aber eine polyglotte Bestellkultur bei der Weltküche herrscht, ist der Bedarf nach regionalem Saisongemüse, das auch ohne Glutamat schmeckt, eher ein Nischensegment für bewusstes Essen.

Aber das heißt natürlich nicht, dass der größte Großmarkt Europas und seine 6200 Gewerbekunden die Zeichen der Zeit verschlafen. Viele energieaufwändige Gewächs- und Kühlhäuser der lokalen Erzeuger werden mit Strom aus regenerativen Quellen unterhalten, auch die von Christian Meyer, der seine Tomatenpflanzen sogar von Gewächshaushummeln bestäuben lässt. Die Großmarkthalle hat eine Fotovoltaik-Anlage, die weiter ausgebaut wird. Und seit 20 Jahren dürfen auf dem Schachbrettmuster der Verkehrswege nur elektrisch betriebene Gabelstapler fahren (ursprünglich allerdings aus Feuerschutzgründen). Deren geräuscharme Fortbewegung ist für den ungeübten Rumschnüffler jedoch partiell lebensgefährlich.
Die orangen Hebeflitzer mit ihren teilweise blaufarbigen Lichtkoronen zur optischen Warnung sind so leise wie schnell, dass der Fremdling ständig reflexartig zur Seite spritzen muss. Allerdings haben Ungeübte hier sowieso keinen Zutritt. Niemand darf ohne Händlerausweis in der Großmarkthalle einkaufen. Nicht einmal die 3200 Beschäftigten des städtischen Betriebs, der für den reibungslosen und freundlichen Ablauf in dem auffälligen Baudenkmal verantwortlich ist. Geschenkt kriegen dürfen sie aber schon mal etwas, Äpfel aus dem Alten Land zum Beispiel. Das Nightlife der Gemüsefrische lebt hier in quasi familiärer Ungezwungenheit, und außerdem muss man ja wissen, was schmeckt. Äpfel aus dem Alten Land zum Beispiel.

Dass kaum ein Hamburger den fantastischen Raumeindruck kennt, den das Versorgungszentrum am Oberhafen mit seiner 21 Meter hohen Scheddachdecke in Tsunami-Form besitzt – außer den Gästen der Hallenführung von Joachim Köhler um 5.45 Uhr – ist natürlich ein Jammer. Rund 50 Jahre bevor die Elbphilharmonie mit ihrem Wellendach zum Wahrzeichen dieser Flussseite wurde, hatte Bernhard Hermkes bereits das stürmische Wasser als Motiv seiner Hallenarchitektur so prägend realisiert, dass bis heute jeder, der mit dem Zug in die Stadt fährt, von dem beschwingten Bau begrüßt wird.
Hermkes war einer der prägenden Architekten der Nachkriegszeit in Hamburg, gehörte zum Team, das die Grindelhochhäuser plante, entwarf das muschelförmige Audimax der Universität, das Gewächshaus in Planten un Blomen, aber auch Industriebauten wie das Kraftwerk Wedel, dessen schlanke Türme für Schiffe die Einfahrt von Westen nach Hamburg markieren. Sein Meisterstück aber ist die Spannbetonarchitektur der Großmarkthalle mit ihren drei opulenten Bögen und der feinen Saumwelle zur Wasserseite, die von außen zeigt, was eine lebendige moderne Architektur nach dem Krieg für prägnante und liebenswerte Gebäude schaffen konnte.

Im Jahr der Eröffnung 1962 wurde zufälligerweise auch das 1000-jährige Marktrecht gefeiert, dass Erzbischof Adaldag der Hammaburgsiedlung 962 verlieh. Seither ist der Handelsplatz für Waren von Nah und Fern mehrmals in der Stadt umgezogen. Der erste echte Großmarkt für 300 Bäuerinnen und
Bauern wurde nach dem Brand von Hamburg 1842 auf dem Hopfenmarkt eingerichtet, wo er die ersten 20 Jahre im Schatten der Bauarbeiten zur Nikolai-Kirche zweimal täglich stattfand. Von dort zog er ostwärts über den Messberg zu den Deichtorhallen, wo für ihn 1914 die zwei Gebäude eröffnet wurden, die heute Kunst und Fotografie Platz geben. Und schließlich, nachdem Hammerbrook vom Bombenkrieg ausradiert war, zogen Blumen-, Obst- und Gemüsemarkt weiter zu ihrem heutigen Standort, der es bis mindestens 2044 auch bleibt. Senatsversprechen.

Denn natürlich gibt es Gelüste, das zentral gelegene Riesengelände irgendwann mal gewinnträchtig zu erobern. Ein erster Einschub geänderter Nutzung ist ja bereits implantiert unter dem Schild „Harry Potter“. Im Mittelschiff zeigt ein ex­tra dafür in der Halle errichtetes Theater die Schauspielver­sion des britischen Zaubermärchens. Und davor, zwischen den weißen „Schiffsschornsteinen“, die Hermkes als Unterstützung der maritimen Bildsprache für die Abgänge in das Kellergeschoss entworfen hat, wurde jüngst durch das englische Architektenbüro Carmody Groarke auch ein attraktiver Verpflegungspavillon für das Mehr! Theater platziert.
Der ist mit seiner wellenförmigen Silberhaut zwar edel eingepasst in die von Hermkes vorgegebene Gestaltungssprache. Aber er wirkt eben auch wie ein Vorbote neuer Begehrlichkeiten, auch von städtischer Seite. Ob hier nicht die Universität hinkönne oder ein großes Kulturzentrum, wurde in den vergangenen Jahren laut spekuliert. Und hinter dem Schleusenkanal wird mit einem neuen Bebauungsplan versucht, den neu erfundenen „Kreativkai“ mit dem großen Start-up-Riegel „Hammerbrooklyn“ weiter Richtung Großmarkt zu entwickeln. Aber auch die Betreiber selbst sind darum bemüht, mit dem Gelände vor den Hallen etwas Zusatz-Manna zu verdienen, als Event-Location für Harley Days, Musikfestivals oder ihren Food Market.

Von all dem bleibt der Nachthandel in der ungeheizten Halle aber ziemlich unberührt. Hier gibt es keinen freien Stand, obwohl der Supermarktumschlag gar nicht hier, sondern in konzerneigenen Hallen stattfindet. Das Beliefern von Wochenmärkten, Geschäften sowie der Gastronomie in einem Einzugskreis bis nach Dänemark und Polen garantiert locker, dass in die brummende Halle keine Bettruhe einzieht. Die meisten Käuferinnen und Käufer haben ihre festen Händler, bei denen sie nach Mitternacht ihre vorbestellte Ware abholen. Aber manchmal sieht man auch bekannte Köche wie Tim Mälzer oder den Betreiber des benachbarten Bio-Supermarkts mit Restaurant Hobenköök, Thomas Sampl, beim Inspirationsspaziergang von Stand zu Stand.

Obwohl in der Früchte-Metropole weder Frischfleisch noch Fisch verkauft werden darf, gibt es eine bedeutende Ausnahme mit der Quartierskennung C86. Das ist der Imbiss von Oliver Rehr, wo die Appetit-Uhren auch anders laufen als in der restlichen Stadt, vielleicht mit Ausnahme von St. Pauli. Denn zu einer Zeit, zu der die meisten Menschen eher missmutig an einem Franzbrötchen herumkauen würden, serviert „Ollie“ seiner gut gelaunte Kundschaft Currywurst-Pommes, und wichtigen Marktklatsch dazu.
Männliche Kundschaft, muss es allerdings heißen, denn tatsächlich ist Großmarkt eine ziemlich maskuline Veranstaltung. Hanna Bösch-Colla, eine der größten Spargelhändlerinnen des Nordens, sitzt seit 44 Jahren in ihrem Kabäuschen hinterm Holztresen und verkauft mit herbem Witz Gemüse. Ansonsten sieht man auf der bunten Börse aber Frauen nur noch bei den Blumenverkäufen. Aber das tut der guten Stimmung im Früchte-Dom irgendwie keinen Abbruch.

Auf dem Schlachthof sieht das sicherlich anders aus. Vielleicht ist es also der ständige Umgang mit nachwachsenden Köstlichkeiten von der Essblume bis zur Wassermelone, der einen solch positiven Einfluss auf die Marktstimmung hat, dass diese Händler und die Händlerin so gut drauf sind, als verbrächten sie ihr Nachtleben auf einer Party. Irgendwie beneidenswert. Wenn da nicht diese ewige Sonnenfinsternis wäre. Und „das Leben an der Welt vorbei“, wie eine Mitarbeiterin des Großmarkts es nennt. Aber das ist vielleicht im ständigen Krisenmodus dieser Welt auch gar nicht so falsch.

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 57

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