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Herzensprojekt
PÂTISSERIE JOHANNA
Die PÂTISSERIE JOHANNA in der Speicherstadt ist eine Art 5-Sterne-Haus für Leckermäulchen. Beste Zutaten, verarbeitet zu essbaren Kunstwerken. Entstanden ist diese bunte Welt aus dem größten Schmerz einer Mutter.
Text: Andrea Hacke | Fotos: Jan Northoff
Willkommen im Garten Eden. Direkt am Brooksfleet, in einem edel umgebauten Kakaospeicher, lockt in der „Pâtisserie Johanna“ die Verführung: feinste Törtchen, dekoriert mit filigranen Schoko-Schmetterlingen, glänzenden Riesenkirschen oder hingetupftem Baiser. Dazu Pralinen, für die es zum Teil fünf Tage braucht, um sie herzustellen, befüllt mit außergewöhnlichen Zutaten wie schwarzer Johannisbeere und Rosmarin oder Pistazie mit Basilikum. Klingt crazy? Schmeckt fantastisch. Es gäbe auch, wie man es von den feinen Adressen in Frankreich kennt, gefüllte Croissant Rolls, Macarons, Dragees oder Vallée du chocolat.
Jedes Produkt ist bis ins kleinste Detail handgefertigt in einer gläsernen Manufaktur. Gäste können gleich daneben Platz nehmen und zugucken, wie Chefpatissier Marcel Reinhardt und seine zehn Mitarbeiter Tag für Tag mit ganz viel Leidenschaft ihren Job ausüben. Gerade besprüht jemand die Formen für einige der 5000 Pralinen, die hier jede Woche entstehen. Weiter rechts läuft aus drei Öffnungen permanent Schokolade wie woanders Wasser aus dem Hahn. Es sieht aus wie im Märchen.
Erschaffen hat den Gastro-Tempel Inka Orth, unterstützt von ihrem Mann Ralph. Und das als absolute Quereinsteigerin. Ein schreckliches Erlebnis brachte sie dazu, mit über 50 beruflich noch mal ganz neu zu starten. Bis dahin führten Inka und ihr Mann hauptberuflich eine Seniorenresidenz im Ahrtal für 180 Bewohner. Außerdem leitete Inka als Vorsitzende den Verein „Bunter Kreis Rheinland“, der junge Eltern mit Frühchen unterstützt. Anderen helfend hatte sie ein für sich rundum erfülltes Dasein. Bis zum 14. Juli 2021. Damals war das Paar gerade in den Urlaub nach Mallorca geflogen, und Inka Orth dachte, während sie dort in den blauen Himmel guckte: „Wie dankbar bin ich für unser schönes Leben.“ Einen Tag später war dieses Leben vorbei.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli erfasste zu Hause eine Naturkatastrophe das Ahrtal, und in dieser Flut geschah, was sie als Eltern kaum ertragen konnten: Ihre Tochter Johanna verstarb damals mit nur 22 Jahren. Dabei hatte Johanna noch so viele Pläne, wollte als Konditormeisterin ihre eigene Patisserie eröffnen. „Marlies“ sollte sie heißen, nach der Oma, bei der Johanna schon als kleines Mädchen das Backen lernte. Inka und Ralph wollten sie dabei vollends unterstützen. Diese Zukunft war nun weg – und Inka fühlte sich im Juli 2021, nach der sofortigen Rückkehr ins Ahrtal, so, wie es vor Ort aussah: kalt und kaputt.
Monatelang konnten sie und ihr Mann das Haus nicht verlassen. „Es fühlte sich an, als hätte ich Bleiklötze an den Füßen, wenn ich nur zum Mülleimer gehen wollte“, erzählt Inka. Diese so energievolle Person hatte alle Kraft verloren. „Aber es gab nur zwei Möglichkeiten“, sagt sie heute. „Man bleibt dort oder packt das Leben irgendwann wieder an.“ Im Oktober 2021 erwachte Inka morgens und wusste plötzlich: „Ich muss das lernen, was Johanna so geliebt hat: die hohe Kunst der Patisserie.“ Also belegte sie einen Kurs in Ulm in der Patisserieschule von Matthias Mittermeier. Bei ihm unterrichten nur die besten Patissiers Europas. Nachdem er von der traurigen Geschichte gehört hatte, sagte er: „Kommen Sie einfach her!“
Nach dem ersten Wochenende dort wusste Inka: DAS wird ihr Weg sein! Ein neuer Beruf – in Johannas Fußstapfen. Sofort buchte sie 15 weitere Kurse. Bei einem davon saß sie in der Mittagspause zufällig neben ihrem heutigen Chefpatissier Marcel. „Er zeigte mir, was er schon angefertigt hatte. Und ich merkte, er hatte einen ganz ähnlichen Anspruch wie unsere Johanna.“ Dem jungen Mann erzählte sie von dem Plan, Johannas Wunsch doch noch wahr werden zu lassen – und Marcel machte mit.
Inka besorgte ihm einen Platz an derselben Meisterschule, auf die ihre Tochter gegangen war, plante mit ihm über Wochen erste Produkte, auch eins nach Johannas Rezept.
Und dabei merkte Inka, wie sie ihrer Tochter wieder näherkam. Dass ihr Kind gefühlt da war, obwohl sie es nie mehr in den Arm nehmen konnte.
Als Inka und Ralph auf der Suche nach einem passenden Ort in ihrer Lieblingsstadt Hamburg die 700-Quadratmeter-Fläche in der Speicherstadt entdeckten, waren sie am Ziel. Im Oktober 2023 begannen sie mit der Renovierung, fünf Monate später war schon Eröffnung. Nur möglich, weil die Firmen für Strom, Belüftung, Boden und Interieur alle aus dem Ahrtal nach Hamburg reisten, um dem Paar zu helfen. „Jede Firma sagte: Das ist uns wegen Johanna ein Herzensprojekt“, so Inka.
Der Einsatz wurde belohnt: Gleich nach Eröffnung vor einem Jahr standen Kunden hier zwei Stunden Schlange, um reinzukommen. Auf dem Insta-Account, den Johannas beste Freundin Franzi befüllt, explodierten die Followerzahlen. Zügig wurden weitere Patissiers nach Hamburg rekrutiert. Bis heute haben sie 120 Tischreservierungen am Tag. Pro Buchung steht ein 90-Minuten-Slot zur Verfügung. An sich genug Zeit für ein Törtchen mit Kaffee, dennoch löst man sich ungern von diesem Ort. Weil er jede Seele ein klein wenig ruhiger macht. Der Grund dafür ist die Liebe, die hier in der Luft liegt: von den Eltern zur Tochter, von den Patissiers zu ihrer Arbeit. Und es liegt auch an der Wertschätzung der Orths ihren Angestellten gegenüber.
Im ganzen Laden steht Johanna im Mittelpunkt: Beim Verkaufstresen sitzt eine Bronzefigur der Tochter in Originalgröße. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Johanna im Großformat. Ein zartes Mädchen mit Rehaugen und Pferdeschwanz, die auf einigen Bildern in Konditorjacke in die Kamera lächelt. Man mag sie sofort. „Ich habe im Laden das Gefühl, Johanna ist noch bei uns“, erzählt Inka.
Im Logo der Patisserie, als Schoko-Deko und selbst als Lampen im Laden begegnet den Gästen immer wieder die Form eines Schmetterlings. Warum, das erklärt Inka so: „Als wir damals vor Johannas Beisetzung mit ihrer Freundin Franzi zusammensaßen, kam ein Schmetterling hereingeflogen und setzte sich auf einen Strauß weißer Rosen. Franzi hat den Schmetterling dann auf ihren Finger genommen, mit ihm lange geredet. Und der blieb tatsächlich dort sitzen. Für uns war das ein Zeichen von Johanna.“
Mit der Patisserie zeigt Inka allen: Man muss Verstorbene gar nicht loslassen. Man kann sie ebenso ins eigene Leben integrieren und aus dem größten Schicksalsschlag etwas durch und durch Schönes entstehen lassen.
Wenn die Patisserie montags und dienstags geschlossen ist, fahren Inka und Ralph jede Woche zurück ins Ahrtal. Um ihre Seniorenresidenz kümmert sich jetzt zwar ihr Sohn Max, aber die Residenz sei immer wie ihr drittes Kind gewesen. Ganz ohne geht’s auch nicht. „Außerdem tut uns Ruhe nicht gut“, sagt Inka, die seit der Flut keinen Urlaub mehr genießen kann. „Ich weiß nicht, warum man als Eltern so etwas erleben muss.“ Zum ersten Mal zittert Inkas Lippe. Dann schaut sie auf, sieht, dass ein Kunde etwas sucht, springt auf. „Ich muss da mal kurz helfen!“ Und schon ist sie wieder in ihrem Element: da zu sein für andere. Falls Johanna wirklich von irgendwo zusieht, wie Inka und ihr Mann vermuten, müsste sie sehr stolz darauf sein, was ihre Eltern hier für sie geschaffen haben.