Volldampf voraus
MARITIMES KLEINOD
Text: Peter Wenig | Fotos: Matthias Plander
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 62
Das Pfeifen schallt laut über den Jungfernstieg, für ein paar Sekunden verschwindet das Dach der „St. Georg“ fast unter dem Wasserdampf. Matthias Kruse steuert das Schiff Richtung Außenalster. Das älteste noch regelmäßig schippernde deutsche Dampfschiff schnauft unter Lombards- und Kennedybrücke hindurch, es öffnet sich der Blick auf Ruderclubs, Villen und Uferpromenaden. Mehr Hamburg-Panorama geht nicht.
Seit drei Jahrzehnten gehört die „St. Georg“ nun zur Alster wie die Reeperbahn zu St. Pauli. Doch die meisten kennen das Schiff nur als optisches Kleinod. Wer seine Geschichte begreifen will, muss mit Matthias Kruse reden. Ohne das Engagement des gelernten Journalisten und Kaufmanns, das darf man sagen, wäre Hamburg um eine maritime Attraktion ärmer. Denn zur Wahrheit gehört, dass die Freie und Hansestadt das Schiff nicht einmal geschenkt haben wollte.
Aber der Reihe nach: Gebaut wurde das Dampfschiff 1876 auf der Hamburger Reiherstiegwerft. 63 Jahre dampfte das Schiff im Liniendienst zwischen Jungfernstieg, Barmbek, Mühlenkamp und Winterhuder Fährhaus, zunächst unter dem Namen „Falke“, dann nach einem Umbau als „Galatea“, schließlich als „St. Georg“. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs endete die Alsterschifffahrt. Nach dem Krieg geriet das Schiff ins Berliner Exil, zunächst als Motorschiff „Deutschland“, später als „Planet“. Zum 800. Hafengeburtstag 1989 wollte Berlin das Schiff der Hansestadt schenken, doch nach einer Besichtigung des maroden Kahns verzichtete der Senat dankend.
Damit schlug die Stunde von Kruse und seinen Mitstreitern, die sich seit Jahren mit der Geschichte der Alsterschifffahrt beschäftigten. Die Privatinitiative kaufte das Schiff für einen symbolischen Euro, kämpfte um Sponsoren und Darlehen, um die 950.000 DM teure Sanierung zu finanzieren. „Mehr als schiefgehen konnte es ja nicht“, sagt Kruse trocken.
Die Dresdner Werft Laubegast restaurierte das Schiff, das eher einem Wrack glich, in mühevoller Kleinarbeit, baute eine Dampfmaschine ein, die Kruse bei einem Sammler am Rhein aufgetrieben hatte. Seit 1994 fährt es nun wieder unter dem alten Namen „St. Georg“ über die Alster. Das Interieur
mit den schönen längs eingebauten Holzbänken, nachempfunden von historischen Zeichnungen und Gesprächen mit Zeitzeugen, gleicht einer Straßenbahn – genau wie in den Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg. Inzwischen zählt die „St. Georg“ jedes Jahr 20.000 Fahrgäste, dazu kommen noch
über 100 Charterfahrten für Firmen und private Feiern.
Wer mit der Crew über Alster und Kanäle schippert, spürt sofort ihre Leidenschaft. „Solche Maschinen sehen Sie sonst nur noch im Museum. Hier läuft sie“, schwärmt Maschinist Frank Gotthardt. Der Zwei-Zylinder, gebaut 1928, läuft erstaunlich leise. Zu schaffen macht dem gelernten Metallbauer nur die Hitze im Sommer: „Dann haben wir hier unten Temperaturen von über 60 Grad.“
Daniel Dora, Decksmann und Fahrkartenverkäufer in Personalunion, schenkt ein Deck höher Kaffee, Softdrinks und Bier vom Fass aus. Stilecht trägt Dora eine über hundert Jahre alte Schaffner-Tasche. Der gelernte Technische Zeichner hat seinen beruflichen Wechsel nie bereut: „Woanders könnte ich mehr verdienen. Aber dies ist für mich einer der schönsten Arbeitsplätze.“ Auch Sören Sterna, Prokurist eines Berliner Kompressoren-Unternehmens, ist längst von der „St. Georg“ infiziert. Regelmäßig fährt er aus der Hauptstadt nach Hamburg, um als Decksmann an Bord zu dienen. Er zählt zu den ehrenamtlichen Crew-Mitgliedern, ohne die der Schiffsbetrieb nicht aufrechtzuerhalten wäre. An Dienst-Wochenenden logiert er bei Kruse – und lernt zugleich das Steuern der „St. Georg“ von seinem Gastgeber. Der Weg zum Schiffsführer ist weit, aber Sterna wird ihn in den nächsten eineinhalb Jahren gehen.
Wie kompliziert dies ist, zeigt das Anlegemanöver. Mit ordentlich Schwung dreht Kruse das Steuerrad, dann drückt er die Klingel, presst seine Lippen an das Sprachrohr und ruft „langsam“ in den Maschinenraum. Wieder dreht Kruse das Steuerrad, diesmal nach links, ruft „Stopp, auf zurück“. Drei Kommandos und ein paar Steuerdrehungen später springt Decksmann Dora an Land, vertäut die „St. Georg“ sicher am Jungfernstieg. Maßarbeit. „Hilfsmittel wie Bugstrahlruder oder Anlegemagneten sind nur etwas für Leute, die nicht steuern können“, sagt Kruse und lacht.
„Man muss den Winkel genau berechnen und dabei auch den Wind einkalkulieren“, erklärt Sterna. Im Steuerhaus der „St. Georg“ gibt es keinen Schalthebel für Geschwindigkeit und Fahrtrichtung. Kommandos an den Maschinisten über das Sprachrohr müssen reichen. Kruse hat sich das selbst beigebracht: „Ich habe mir gesagt, was vor hundert Jahren funktioniert hat, muss auch jetzt funktionieren.“
Weit mehr als die mitunter schwierigen Manöver an Sommertagen durch das Meer von Stand-up-Paddlern, Ruder-, Segel- und Tretbooten machen ihm die Hindernisse an Land zu schaffen. Gerade arbeitet Kruse, zugleich Vorsitzender des Vereins Alsterdampfschifffahrt, daran, das – vorsichtig formuliert – schwierige Verhältnis zur Alster-Touristik GmbH zu entspannen.
Zur Existenzfrage für das Dampfschiff könnte die ab 2030 geltende Regel werden, dass nur noch mit E-Mobilität betriebene Motorschiffe auf der Alster erlaubt sind. Ein Umrüsten auf einen E-Motor wäre für Kruse Verrat: „Dies würde dem Gedanken eines Museumsschiffs völlig widersprechen.“ Zum Glück weisen die Gespräche mit der Umweltbehörde über eine Ausnahmeregelung in die richtige Richtung. Und erste Versuche mit einem klimafreundlichen Trockenbrennstoff, der das Leichtöl ersetzen soll, laufen bereits.
Tradition ist für den Verein eben die
Weitergabe des Feuers und nicht die der Asche. Dies zeigt sich im Kleinen: Decksmann Dora verkauft nun auch Tickets über ein EC-Karten-Gerät, Sterna verhandelt mit dem Hotel Vier Jahreszeiten über eine Kooperation mit
Tee-Fahrten. Und im Großen: „Wir müssen Antworten auf die Klimafrage finden“, sagt Kruse. Zwar findet er „die Situation ziemlich absurd, dass wir hier dieses Problem haben, während auf der Elbe Handels- und Kreuzfahrtschiffe für einen ungleich größeren CO₂-Ausstoß sorgen.“ Aber man müsse akzeptieren, dass sich vor allem die junge Generation nicht mehr ungeteilt für Dampfschiffe begeistern könne.
Die Hansestadt, appelliert Kruse, sollte mit viel mehr Stolz ihr maritimes Erbe pflegen. Das historische Potenzial ist dank Zukäufen des Vereins da: Zwei weitere Dampfschiffe, zwei Alsterbarkassen sowie ein Motorschiff warten auf ihre Restaurierung. Dann könnte Kruses Traum Realität werden: eine Museumslinie auf der Alster.