Grandezza
Text: Rocko Schamoni | Illustration: Ralf Nietmann
Lasst Hamburg alt werden! Wenn ich durch Wien spaziere, gehe ich gern die Mariahilfer Straße herunter, ein wenig wie die Mönckebergstraße, nur in schrottig und lebendig. Am Ende gelange ich, nach einem Querstecher durchs Viertel, zum Naschmarkt an der Wien, einem mehrere Hundert Meter langen Areal, auf dem in über 120 kleinen Buden die Esswaren aus aller Welt angeboten werden. Häufig muss ich dann etwas wehmütig an unseren alten Spielbudenplatz auf St. Pauli zurückdenken. Bis Ende der Achtzigerjahre standen dort diverse kleine Pavillons und Bretterbuden, wo es Krimskrams zu kaufen gab und in denen Restaurants, Clubs und Galerien beheimatet waren. Ich habe dort tolle Konzerte in engen heißen Räumen gesehen, und wenn man Haschisch kaufen wollte, waren die verwinkelten Gänge zwischen den Buden die beste Adresse.
Ende der Achtziger wurde von der Politik beschlossen, dass dieses aus der Zeit gefallene Areal Hamburg nicht mehr würdig war – und mit der hanseatischen Aufräumwut wurde alles, was dort stand, in kurzer Zeit abgerissen. Nun hatten wir einen für uns wichtigen Ort verloren und dafür einen großen kahlen Platz in einem sowieso schon hässlichen Viertel gewonnen.
Während ich die ideenlosen Planungsversuche der Stadt beobachtete, fragte ich mich immer: Warum habt ihr die alten Buden nicht gelassen? Ihr hättet sie nur ein wenig renovieren und modernisieren müssen, dann hätten wir, gemäß dem Wiener Modell, unseren Naschmarkt gehabt. Was zwingt die Hamburger Granden und Besitzer ständig dazu, alles Alte, Bröckelige, nicht ganz Gerade, Verwachsene, Verfärbte, Strauchelnde entweder zu kaschieren oder völlig zu entfernen? Warum darf diese Stadt nicht, wie all die schönen Städte in Europas Süden, in Würde und Grandezza altern?
Hielte ich Hamburgs Zepter in der Hand, ich würde den Besitzern und Bauplanern auferlegen, vor neuen Entwürfen zum Umbau oder Abriss nach Wien, Rom oder Palermo zu reisen und dort den „morbiden Charme“ einzusaugen – diese in die eigene Geschichte verwachsenen Gesichter dieser wundervollen Stadtgreise. Das wünschte ich mir auch für Hamburg: mehr Charakter und Geschichte, mehr Falten und Risse statt glatt spiegelnder Renditearchitektur.
Vor allem Palermo könnte den Blick der Architekten verändern. Dort liegt im innersten Kern der Stadt, direkt hinter dem Hafen La Vucciria, der Altstadtkern. Er ist wild, alt, verfallen, die Zeiten wuchern hier, überlappen sich, zwischen bewohnten Ruinen und 2000 Jahre alten Plätzen verkaufen Straßenhändler Meeresfrüchte, Gemüse, gefälschte Modeartikel, alles hat Ranz und dennoch brodelndes Leben.
Ich bereiste Sizilien im Jahr 2016 und kam an einem Juliabend in Palermo an, war an der Piazza Garraffello mit einer Freundin verabredet. Als ich den Platz betrat, war er voller Menschen, Hunderte von Anwohnern waren mit Stühlen aus ihren Wohnungen gekommen, um sich das Viertelfinale der EM zwischen Italien und Deutschland anzuschauen. Eine gewisse Nervosität ergriff mich, war ich doch der einzige Deutsche unter ca. 800 Sizilianern.
Meine italienische Freundin entdeckte ich direkt vor der Leinwand, sie winkte mich zu sich. Zwischen uns und der Videoleinwand stand ein Fischgrill und ständig schrien die Menschen aus der Menge dem hemdsärmeligen Grillmeister merkwürdige Begriffe zu, worauf dieser Doraden oder Pulpi erst auf den Grill warf und nach wenigen Minuten dann über die Köpfe aller Zuschauer zu dem Besteller des Mahls.
Das Spiel nahm seinen Lauf, man kredenzte auch mir Speisen und Wein, meine Fremdscheu legte sich etwas. Bei Torchancen der Italiener sprang der gesamte Platz auf, die Leute brüllten und rauften sich die Haare, wenn der Ball danebenging. Ich hingegen blieb still sitzen. Als aber Özil für die Deutschen die erste Torchance verwandelte, hatte ich meine Reflexe für eine Sekunde nicht im Griff, sprang ebenfalls auf, ein gegröltes „JAAAAA!“ brach aus meiner Kehle, ich reckte die Fäuste zum Himmel, dann fiel mir auf, dass absolut niemand mit mir jubelte. Im Gegenteil: In der Stille bemerkte ich 1600 dunkel glühende Augen auf mir. Ich setzte mich still auf meinen Plastikstuhl, während mich der Grillmeister, die Hände in die Hüften gestemmt, argwöhnisch beobachtete.
Das spannungsgeladene Spiel nahm seinen Lauf, Ausgleich durch Bonucci für die Italiener, der Platz überschlug sich. In der Nachspielzeit kam es zum Elfmeterschießen, und bei jedem Tor, das die Italiener nicht verwandelten oder das den Deutschen gelang, rechnete ich damit, in Stücke gerissen zu werden. Als dann das finale Tor für die Deutschen fiel und die Italiener draußen waren, blickte ich den Grillmeister an. Was würde er mit mir anfangen? Nun, er hob die Schultern, grinste mich mit einem verwegenen Gesichtsausdruck an und sagte: „Benvenuto a Palermo, amico mio – willkommen in Palermo, mein Freund.“
