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Cap San Diego
Text: Till Briegleb | Fotos: René Supper
Wo liegt eigentlich das Cap San Diego? Nein, nicht die, sondern das? Das Schiff liegt an der Überseebrücke und ist der erste Blickfang für alle Kinder und Touristen, die sich an den Fensterscheiben der U3 die Nase platt drücken, um den Hamburger Hafen zu bestaunen. Doch obwohl alle Schiffe der sogenannten „Cap San“-Reihe, die ab den Fünfzigerjahren von der Deutschen Werft gebaut wurden, nach einer Landspitze in Südamerika benannt wurden, findet das Internet dieses Cap nicht. Es findet nur noch das Museums- und Hotelschiff in Hamburg. Das nennt man gelungenes Branding. Aber wo liegt jetzt das echte Cap San Diego? Die letzte Instanz auf einem Schiff, die alles wissen muss, ist der Kapitän. Auf dem schwimmenden Kulturzentrum mit Fahrerlaubnis in deutschen Gewässern ist das Birger Möller, ein herzlicher Seebär, der 1967 auf einem baugleichen Schwesterschiff der „Cap San Diego“ als Moses mit der Seefahrt begann – mit dem Auffegen von Orangenresten in Luke 4. Seither hat er viel Wissen, Erfahrung und Anekdoten über die christliche Seefahrt in seiner Erinnerung zusammengefegt. Und natürlich weiß er, wo das ominöse Zipfelchen liegt, das Google und Wikipedia nicht finden können, obwohl es äußerst prominent sein müsste.
Das karge Felsstück, besiedelt von einem romantischen Leuchtturm mit klassisch rot-weißen Bauchbinden und Horden brüllender Seelöwen, ist nämlich das südliche Festlandende Amerikas. Danach kommen nur noch Inseln, darunter die Isla Hornos mit dem Kap Hoorn, das wiederum jeder kennt. Und der Kapitän weiß auch, warum der Journalist und sein Internet die Südspitze Amerikas nicht entdeckt haben. Sie liegt in Argentinien, heißt deswegen „Cabo“ San Diego und hat unter diesem Namen dann tatsächlich auch einen kurzen spanischen Wikipedia-Eintrag und auffindbare Koordinaten: 54° 48' 0'' S, 65° 7' 0'' W. Denn maal Lienen los!
Leider viel kürzer als geplant durfte die „Cap San Diego“ nach ihrer kalten Schiffstaufe im Hamburger Hafen am 15. Dezember 1961 das südliche Amerika bis Feuerland ansteuern. Schon 1986 sollte sie in China verschrottet werden, als Letzte ihrer Art. Die „Weißen Schwäne“, wie die eleganten Schiffe der Reederei Hamburg Süd hießen, die vor allem im Warenhandel mit Brasilien und Argentinien eingesetzt wurden, gehörten zu dem auslaufenden Modell der Stückgutfrachter. Denn bereits 1956 war das erste Containerschiff von New York nach Texas aufgebrochen. 1966 kamen die ersten „Blechdosen“ in Bremen an, an deren Zukunft die deutschen Reeder damals so wenig glaubten wie Kaiser Wilhelm an den Siegeszug des Autos.
Aber rasch wurde in den Siebzigern klar, dass man Äpfel, Honig und Eisbären, Autos, Kühe und Rizinusöl, Pferdehälften, Mähdrescher und Hausstände nicht mehr wie auf der „Cap San Diego“ mit dem Schiffskran auf Unterdecks hievt, wo sie von 50 Mann Besatzung an die richtige Stelle bugsiert und dort festgezurrt wurden. Und so kam es zu dem traurigen Schicksal der „Cap San Diego“, das letzte Geleit der alten Seefahrt zu sein, als rot-weiße Eskorte für das Ende der Seeabenteuer, des Matrosenlebens, der Freiheit der Meere, des Seemannsgarns und der schönen Schiffe. Im Fall der „Cap San -Diego“ muss man sogar sagen, eines besonders schönen Schiffes.
Denn entworfen wurden die Boote der Hamburg Süd von Cäsar Pinnau. Der hatte zwar auch Hitlers Reichskanzlei mitgestaltet und Heinrich Himmlers Privaträume in Berlin, war als Architekt an der größenwahnsinnigen NS-Hauptstadt-Planung „Germania“ beteiligt und nach dem Krieg unter seinen Kollegen nicht sonderlich beliebt, weil er keinerlei Reue zeigte. Aber Pinnau entwarf nach 1945 neben Industriellenvillen eben auch schicke Luxusjachten für Prominente wie Aristoteles Onassis, bei denen Barhocker mit Walpenisleder bezogen wurden. Und mit solchen Referenzen war Pinnau der ideale Haus- und Schiffsdesigner für Rudolf-August Oetker, ebenfalls eine Stütze des Dritten Reichs, der im neuen Deutschland sein vieles Geld nicht zuerst mit Tiefkühlpizza, sondern mit der Hamburg Süd verdiente.
Ihm baute Pinnau nicht nur die superelegante glasgrüne Firmenzentrale an der damaligen Ost-West-Straße nach New Yorker Vorbild (also gegen seine Überzeugung ausnahmsweise modern). Er zeichnete auch mindestens 66 Entwürfe für Schiffe der Hamburg Süd und prägte damit ganz wesentlich das Erscheinungsbild der deutschen Nachkriegsseefahrt. Zu ihrem Vorteil, muss man sagen. Der hoch aufragende schlanke Bug, die dynamisch geschwungene Brücke, die Komposition aus Masten, Kränen und Aufbauten, ja selbst die Verschlankung der damals üblichen massiven Schornsteine zu zwei „Abgaspfosten“ über dem roten Peildeck (das man unter der Mannschaft wenig respektvoll „roter Nillenkopf“ nannte) folgten einer durchdachten Ästhetik von großer Klasse, die bis heute nostalgisch stimmt. Denn was aktuell auf den Weltmeeren an computergesteuerten Warensärgen mit Schraube rumfährt, das imponiert nur durch Größe, nicht mehr durch Geschmack.
Hilfreich bei der Entscheidung zu elegant-maritimen Formen dürfte gewesen sein, dass die „Cap San“-Schiffe nicht nur Waren aller Art transportieren sollten, sondern auch Passagiere. Zwar nur zwölf in acht Kabinen, aber die mussten für die sechs- bis achtwöchige Passage nach Recife, Rio oder Montevideo dann auch pro Kopf den Preis eines Volkswagens zahlen. Dafür durfte man dann schon ein wenig Ambiente verlangen, das Pinnaus Design für Schiff wie Ausstattung stilvoll lieferte.
Das kann man noch heute stationär nacherleben. Hamburgs vermutlich einziges Hotel aus Metall erlaubt es seinen Gästen, in den original restaurierten Kammern zu schlafen, in denen auch Rudolf-August Oetker von Back- und Puddingpulver träumte. Der Schiffseigner besaß eine Hacienda in San Pedro bei Buenos Aires, zu der er mit den eigenen Linien fuhr, weil er da ein Auge auf seinen Mercedes haben konnte. Ein übrigens recht volksnaher Mensch, wie Kapitän Möller sich erinnert. Er wollte nicht teures Steak vom Chefkoch aus der Bordküche, das er jeden Tag haben konnte, sondern lieber essen, was die Mannschaft kriegt: Königsberger Klopse. Fand er leckerer! Und er kam auch mal auf das „Palaverdeck“ am Heck, wo sich das niedere Schiffspersonal in seiner Freizeit versammelte, und bot Bier und Klönschnack an: allerdings auch da ganz der manipulative Produktvertreter.
„Wir konnten wählen zwischen warmem Holsten oder kaltem DAB“, erinnert sich Möller. Die „Dortmunder Actien-Brauerei“ gehörte Oetker, Holsten war das Hamburger Matrosenbier. „Also tranken wir sein DAB, obwohl das nicht tropenfest war.“ Sprich: Es „kippte“ schnell, wenn es nicht dauernd gekühlt wurde. Aber dafür löste sich bei diesen Zusammenkünften die strenge Bord-Apartheid einmal auf. Außer Kapitän und Stewards durfte keiner aus der Mannschaft den Gesellschaftsbereich unter der Brücke betreten, also Bar, Bibliothek und Speisesaal. Und natürlich auch nicht den Seewasserpool mit kleinem Barbereich, wo die Gäste sich mit Planschen und Tischtennis die Langeweile der Überfahrt vertrieben.
Diese detailliert restaurierte Luxuswelt der Nachkriegszeit, die der Hamburger Senat kurz vor dem Schredder für 2,45 Millionen Mark von einer Reederei kaufte, die das Schiff noch unter dem Namen „Sangria“ in Asien fahren ließ, ist noch original erlebbar. Aber um die „Cap San Diego“ als maritimes Denkmal weiter mit Leben zu füllen, braucht es kreative Einnahmekonzepte. Unterdecks werden für Partys und Betriebsfeiern vermietet, unterm Bug hängen Ölgemälde, unter Fleischerhaken, an denen einst die Pferdehälften aus Argentinien nach Deutschland kamen, finden Kulturveranstaltungen wie das Harbour Front Literaturfestival statt. Und auch die Bar oder den Pool kann mieten, wer mal ganz besonders feiern möchte.
In Schuss gehalten wird dieser lebendige Kulturauftrag mit Tresen von seinen Fans: 120 pensionierte Schifffahrtsfreunde haben die „Cap“ zu ihrem Hobby gemacht und sind in ihren roten Blaumännern überall an Bord mit Pinsel, Lappen oder Maulschlüssel anzutreffen, während manche ihrer Frauen im Souvenirshop arbeiten. Obwohl es ihnen mittlerweile an Nachwuchs mangelt, halten die Ehrenamtlichen nicht nur den Schiffsmythos am Leben und erzählen den Besuchern Schnacks aus den glorreichen Zeiten der Seefahrt. Sondern sie sorgen neben einigen Festangestellten vor allem dafür, dass das Wichtigste garantiert bleibt, was die „Cap San Diego“ vor anderen Museumsschiffen auszeichnet. Sie fährt noch. Gesteuert von
Birger Möller, auch er ein Ehrenamtlicher im roten Overall der Hamburg Süd.
Doch damit das Schiff an 20 Tagen im Jahr mit 500 Gästen und großem Bohei Rostock, Rendsburg oder Bremerhaven ansteuern sowie als Jahreshöhepunkt bei der großen Einfahrt zum Hafengeburtstag dabei sein kann, erwartet der Schiffs-TÜV die „Cap San Diego“ alle fünf Jahre auf der Werft zum Herz- und Nierentest. Und der kostet 1,5 Millionen Euro. Diese astronomische Summe versteht man nur, steigt man in den Bauch des Schiffes hinab, in die fantastische Welt der MAN-Hauptmaschine K9Z 78/140 mit 11.650 PS. K9Z steht für Kreuzkopf 9-Zylinder.
Hier führen steile Treppen immer tiefer in ein gigantisches Maschinenlabyrinth aus schwarzen Zylindern, silbernen Rohren, farbigen Hähnen, zwischen Pumpen, Kesseln, Vakuum-Frischwasser-Erzeugern, Anlassluftkompressoren, Hilfsdieseln hindurch bis zum Fahrstand mit Handrad, Sprachrohr und Maschinentelegrafen. Diese Verschlingungen funktionierend zu halten, das ist schon Millionen wert. Allerdings ist diese Maschine eben auch hungrig. Und wegen Covid-19 hat der Weiße Schwan leider 2020 einen ziemlich leeren Magen. Keine Hochzeiten, keine Partys, keine Ausfahrten gab es nach dem Lockdown. Vereinzelte Touristen stromerten im Spätsommer wieder über die Decks, Pärchen stellten sich an den hohen Bug, um ein „Titanic“-Selfie zu machen.
Deshalb wurde Ann-Kathrin Cornelius’ Büro im September in ein weiteres Hotelzimmer umgebaut. Die Geschäftsführerin der Betriebsgesellschaft, die in normalen Zeiten einen Brausejob hat mit 500 Veranstaltungen pro Jahr, zog aus dem mit dunklem Holz verkleideten Büro des Ersten Offiziers mit Schiffsfähnchen, alten Zylindern und einem prähistorischen Röhrenradio aus, weil der Hotelbetrieb als Erstes wieder Einnahmen verspricht.
Tatsächlich kann man kaum schöner übernachten in Hamburg als in den nostalgischen Kabinen mit ihren Betten aus dunklem Holz, den grünen Samtmöbeln, schönen Kippschaltern und verschraubten Fensterluken, durch die man morgens die Sonne aufgehen sehen kann zwischen St. Katharinen und Elbphilharmonie. Aber das Schönste an dieser Herberge ist der Nachtspaziergang allein auf Deck. Im Zwielicht der Stadt- und Himmelslichter verwandelt sich der 159,4 Meter lange Frachter in einen technischen Skulpturenpark mit Fernsicht, der sehr eindrücklich klarmacht, warum Menschen zu Schiffen jener alten Zeit eine so innige Beziehung aufbauen können. Jedes Detail hat hier Charakter, Geschichte, Atmosphäre. Es ist eine Architektur des Fernwehs mit den Koordinaten 53° 32' 36'' N, 9° 58' 33'' E, die einen nur eines wünschen lässt: Lienen los! Das Cap San Diego ruft!
Diesen Artikel finden Sie in Ausgabe 49