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Hamburgs Unterwelten

Text: Simone Rickert Fotos: Ingo Boelter

Hamburgs Untergrund ist durchzogen von Tunneln, Gängen und Kellern. Eine besondere Herausforderung für viele dieser Bauten ist die Lage am Wasser. Dort muss mit dicker Isolierung gearbeitet werden. Den U-Bahnhof Jungfernstieg trennen nur wenige Meter von der Alster. Von den 109 Kilometern Streckenlänge der Hamburger Hochbahn verlaufen genau 52.487 Meter unterirdisch, in 193 Tunnelbauwerken, für die S-Bahn kommen noch mal 12,5 Kilometer dazu. Zwei davon wurden 1968 gebaut, sogar mit Werbeplakaten ausgemalt und dann nie in Betrieb genommen. Am Nordende des Hauptbahnhofs, links und rechts neben dem Bahnsteig der Linien U2 und U4, liegen sie still, auf Zuwachs angelegt unter den Fernzuggleisen. Zurzeit wird geprüft, ob es Sinn macht, die geplante U5 hier anzuschließen. Doch noch ist es dunkel. Durch Gitter am Bahnsteig-Eingang, vom Heidi-Kabel-Platz die Rolltreppe herunter, kann man hineinschauen. In der nördlichen Röhre befindet sich ein Kunstwerk, über 100 gusseiserne Sterne aus der Installation „Firmament“, die die Bild­hauer Stephan Huber und Raimund Kummer 1991 in der Kunsthalle ausgestellt hatten. Wie Meteoriten sind sie abgestürzt, zentimeterdick liegt Staub auf ihnen, sie verleihen dem Ort etwas Geisterhaftes. Betreten ist verboten, Licht gibt es nicht. Auf der Website des Vereins „Unter Hamburg“ kann man immerhin einen virtuellen Rundgang machen. Die zweite unbenutzte Röhre zeigt uns Jens Brünig, ­Ingenieur bei der Hochbahn, ausnahmsweise live. Wenn jemand weiß, was sich hinter den verschlossenen Stahltüren in unseren Bahnhöfen befindet, an denen man im Alltag achtlos vorbeiläuft, dann er: „Der kleinste Teil der Haltestellen ist öffentlich zugänglich.“ Es hat schon etwas von einem Paralleluniversum: Schwache Notbeleuchtung erhellt 120 Meter Bahnsteig ohne Gleise, während nebenan in zwei baugleichen Röhren der ganz normale Feierabendverkehr rotiert. Mehr Geisterstationen gibt es aber wirklich nicht, nicht in Lurup und auch nicht in Steilshoop, versichert Brünig, auch wenn sich die Mythen hartnäckig halten.
Das Wasser in die richtigen Bahnen lenken 5600 Kilometer unterirdische Abwasserkanäle im Stadtgebiet. Nicht alle Siele sind so hübsch aus Backstein gebaut, wie die von William Lindley, der für Hamburg vor 178 Jahren Europas zweites (nach London) Entwässerungssystem plante. Darauf konnte man stolz sein, eine Zeit lang war es große Mode, die Kanalisation mit dem Boot zu besichtigen. Aus diesem Grund ist in dem Sieleinstiegshäuschen am Vorsetzen sogar ein extra Raum, der als Umkleidezimmer für den Kaiser eingerichtet war. Ob der bei seinem Besuch 1904 diese Bootstour dann wirklich unternahm, ist nicht dokumentiert.

Zu den ältesten unterirdischen Bauwerken zählen die Eiskeller, teils riesige Gewölbe, meist unter Brauereien und Wirtschaften, denn auch vor 300 Jahren liebte man Wein und Bier kühl und die Speisen frisch. So auch der Herr Louis C. Jacob, der 1791 das noch heute gleichnamige Haus an der Elbchaussee zum Gasthof ausbaute. Er legte nicht nur die Lindenterrasse an, auch den 6,60 Meter tiefen Eiskeller ließ er neben dem Haus in den Hang bauen. Im Winter wurden die Eisschollen aus der Elbe gebrochen, und da diese tiefen Backsteinkeller alle extrem gut isoliert sind, hielt das Eis lange. Nachschub kam im Sommer per Frachtsegler aus Skandinavien. Und dann geriet der Speicher irgendwann einfach in Vergessenheit, ersetzt durch Kühlschränke, die Besitzer wechselten – man vergaß wohl einfach, seine Existenz weiter zu erwähnen. Erst 1995 wurde er zufällig wiederentdeckt, als ein Bagger versehentlich die obere Mauer einriss. Die Eigentümerfamilie Rahe war, nach dem ersten Schreck, begeistert. Heute finden dort kleine Empfänge und Events statt, und Sommelier Florian Nowack stellt dort die (leeren!) Flaschen seiner edelsten Gewächse als Erinnerung an besonders gelungene Feste seiner Gäste auf.

Auch erst vor wenigen Jahren wiederentdeckt wurde der große Eiskeller in der Lessers Passage 4 in Altona. Öffentlich zugänglich ist der Raum nur am Tag des offenen Denkmals, man kann ihn aber als Event-Location mieten. Und dann gibt es noch den Pesthofkeller an der Ecke Clemens-Schultz-/Annenstraße. Seinen schaurigen Namen hat er vom viel früher hier gelegenen Pest-Spital, aber dass die Kranken dort auch untergebracht waren, ist ein Gerücht. Eigentlich heißt er Koopmannscher Eiskeller und wurde erst 1863 für eine Schlachterei als Kühlraum angelegt. Die schönen Deckengewölbe mit Stützsäulen sind ziemlich gut erhalten, allerdings in Privatbesitz und können nicht besichtigt werden.
Gut gekühlt erreichte ab 1874 auch frischer Fisch per unterirdischer Bahnstrecke den Altonaer Bahnhof und von dort ganz Nordeuropa. Der 961 Meter lange Schellfisch-Tunnel machte es logistisch erst möglich, dass der Altonaer Hafen zum Zentrum der deutschen Fischindustrie wurde. Bis 1992 wurde er für Transporte genutzt. Im Eingang am „Schellfischposten“ sind noch die Gleise zu sehen, leider kann man den Tunnel wegen Einsturzgefahr nicht mehr begehen.

Die Oströhre frisch renoviert, den meisten Hamburgern bestens bekannt: der Alte Elbtunnel. Bei seiner Eröffnung 1911 war er eine technische Sensation. Ein Tunnelbau unterm Gezeitenstrom, die Aufzüge mit je zehn Tonnen Tragfähigkeit beförderten 20 Millionen Arbeiter jährlich von St. Pauli nach Steinwerder, auf die Werften und in den Hafen. Die liebevoll ausgestalteten Majolikareliefs an den Wänden entdeckt nur, wer zu Fuß unterwegs ist. Seit letztem Sommer ist er – bis auf Weiteres – autofrei.
Ein düsteres Kapitel der Geschichte wird mit den Bunkern der Stadt in Erinnerung gehalten. Während die oberirdischen Bunkerbauten unübersehbar sind, ahnt kaum jemand, wie viele Quadratkilometer sich unter der Erde befinden. Der größte Tiefbunker liegt unter dem Steintorwall, man kann ihn besichtigen und steigt hinab via Hauptbahnhof Süd. 2700 Quadratmeter Fläche, 150 Räume auf drei Ebenen, für 2702 Schutzplätze konzipiert. Errichtet wurde er im Zweiten Weltkrieg und in den Zeiten des Kalten Krieges als Atombunker umgebaut. Mit Dieselgenerator und Luftfiltern gegen atomare, biologische und chemische Waffen. Die Menschen hätten im Schichtbetrieb die Sitz- und Schlafplätze geteilt. 450 Personen pro halbe Etage, elf Toiletten, eine winzige Küche mit vier Herdplatten. Die Atmosphäre ist wahnsinnig beklemmend, schon wenn man in kleiner Gruppe hier unterwegs ist und sich fast verläuft in diesem Labyrinth. Eine Frau, die hier die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg überlebte, erinnert sich, dass die Hitze und das Gedränge am schlimmsten waren. Unsere Tour-Begleiterin, eine junge Studentin vom Verein „Hamburger Unterwelten“, sagt: „Es sind Zahlen und Zustände, die man kaum fassen kann.“

Auch die Krypta von St. Michaelis wurde im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzbunker genutzt. Beim dritten Bau von 1906 war eine massive Stahlbetondecke über die Gruft gelegt worden, das machte sie zum sicheren Zufluchtsort für Hunderte Bewohner der Neustadt. Tagsüber verirren sich Touristen selten bis hier unten, die steigen lieber auf den Turm. Abends finden oft Konzerte statt: eine sehr besondere, friedliche Stimmung. Eine weitere sogenannten Zivilschutzanlage wurde im Sommer 1940 am Berliner Tor eingerichtet. Ebenso wie der Bunker Steintorwall wurde er im Kalten Krieg zum ABC-Schutzraum umgerüstet.
Bis kurz nach dem Mauerfall wurde er bereitgehalten, 1990 ist der Betrieb eingestellt worden. Als der Verein „Unter Hamburg“ ihn 2006 der Öffentlichkeit zugänglich machte, war der Vorsitzende Ronald Rossig einer der Ersten, der eine Führung durch die Anlage organisierte. Mit dabei eine ältere Dame, sie verdankte diesem Bau ihr Leben. Als 12-jähriges Mädchen hatte sie hier in der Nacht vom 28. Juli 1943 den Feuersturm auf Hamburg überlebt. Mit Möbeln ausgestattet war der kreisrunde Bau damals nicht. Der Strom fiel auch sofort aus, gut zwölf Stunden hat sie hier mit rund 800 Menschen in der Dunkelheit verbracht. Draußen hatten Temperaturen bis 300 Grad geherrscht, die Luft wurde mit 200 Kilometern pro Stunde in die Brandherde gesogen, eine sieben Kilometer hohe Rauchsäule stand über der Stadt. Sie erzählte das relativ gefasst und ruhig der ganzen Runde. Und Herrn Rossig wurde klar, dass er mit der Öffnung des Bunkers genau das Richtige getan hatte: „Zeitzeugen sind wichtig.“ Er bedauert, dass in seiner Generation über den Zweiten Weltkrieg geschwiegen wurde. Er hat den Verein ins Leben gerufen, um die Bunker als Mahnmal gegen die Kriege zu erhalten, die heißen wie die kalten. Sie erinnern an erfahrene Schrecken und auch an glücklicherweise nicht eskalierte Konflikte: „Diese unheimliche Bedrohung sollten wir nicht vergessen.“

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 46

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