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Treppenviertel Blankenese

Text: David Pohle | Fotos: René Supper

Vor vielen Jahren, es war ein Supersommer, waren wir an einem besonders schönen Tag im Mühlenberger Loch gesegelt. Als es zu ebben begann, legten wir die
Jolle beim Blankeneser Segelclub an den Steg, gingen zu Fuß Op’n Bulln, sahen der Sonne beim Untergehen zu und blieben auch danach einfach noch sitzen. Als es sehr spät wurde, Corona war nur eine Biersorte aus Mexiko und Handys und Internet noch nicht erfunden, und es nur noch einen letzten Absacker für den Sandstrand gab, bot man mir an, im Treppenviertel zu bleiben. Für eine Nacht. So der Plan. Komplett unverfänglich in den offe­nen, warmen Armen der weltgewandten Gastfreundschaft Blankeneses.
Hans Leip (u.a. „Lili Marleen“), der Blankenese das schönste Gedicht hinterlassen hat, das hier kursiv
zitiert wird, schrieb voller Verständnis so:
Die stille Zuflucht – im Vertrauen – zeitmüder Schlemmer, schöner Frauen. Der Liebesstrand, das Sonntagsbad, das Tanzlokal der großen Stadt.
Nach kurzem Schlaf nahm mich ihr Bruder, ein Blankeneser, der sowohl auf dem Bulln als auch auf Hochseeregatten schon knackige Sturmfahrten abgeritten hatte, zur Seite. Sein Vorschoter war nach letzter Nacht ausgefallen, ich der Einzige, dessen er habhaft werden konnte und der nach dem Vortag ein wenig mit dem Revier vertraut war. Eine Stunde später, vor dem Treppenviertel, das sich auftürmte wie die Ränge eines riesigen Stadions, bediente ich die Schoten auf wilder Fahrt mit der schnittigen „Fietsche“, permanent warnend „Raum“ und „Wahrschau“ schreiend, alles Begriffe
vom Segeln, die echte Blankeneser Jungs – und Mädels –
lernen, bevor sie die Worte Mami und Papi sagen
können. Das war meine Blankeneser Feuertaufe.
Bevor wir durchs Treppenviertel gehen, ein wenig Historie. Erste Erwähnung 1301, Name von einer Sandbank, die wie eine blanke Nase weit in die Elbe hereinragte und mit der Zweiten Mandränke – einer zerstörerischen Sturmflut – vor bald 400 Jahren verschwand.
Einst war das Dorf der Fischer und Fährknechte auch für seine tollkühnen Seefahrer berühmt mit ihrer Handelsflotte, die Mitte des 19. Jahrhunderts noch 243 schnelle
Segelschiffe auf die Meere schickte. Weit außerhalb Hamburgs im Westen gelegen, wurde es 1919 mit dem ländlich geprägten Dockenhuden zu einem größeren Blankenese, das 1927 im Groß-Altona-Gesetz Altona zugeschlagen wurde, das selbst wiederum zehn Jahre später im Groß-Hamburg-Gesetz Teil unserer Hansestadt wurde, den niemand missen möchte. Die Blankeneser, von jeher kämpferisch und sturköpfig, fanden allerdings weder das eine noch das andere richtig gut. Verfügten sie doch aufgrund des Wohlstandes vieler neuer Bewohner, die natürlich keine Fischer mit wettergegerbten Gesichtern und schwieligen Händen waren, sondern sehr vermögende Kaufleute, die in Altona oder Hamburg Firmen besaßen, über allerlei Komfort.
Denn die Hinzugezogenen hatten an ihrem neuen
Wohnort eine vorzügliche Infrastruktur geschaffen, z.B. eigene Schulen wie das Lyzeum, ein eigenes Elektrizitäts- und Gaswerk und natürlich den Bahnanschluss nach Altona, der Blankenese – vorher hatte es nur schlaglochverminte Kutschwege gegeben – für Tagesausflügler und richtige Touristen vor allem sommers zum Badeausflug attraktiv machte. Diese vornehmen Leute – die Baurs, die Hesses, die Schinckels usw. –
waren nach und nach gekommen, bauten sich auf dem die Elbe im Hamburger Westen flankierenden Höhenzug Sommerresidenzen und beeindruckende Landsitze, oft von prächtigen Parks umgeben, die bis heute ihre Namen tragen. Ungefähr da wurde der Ruf begründet, Blankeneser – und zwar alle – sind wenigstens schwervermögend. Nun denn, „Seeing is believing“, wie ein alter Spruch in der Familientradition heißt, selbst anschauen also. Erst mal geht es damit los, dass das eigentliche Treppenviertel meistens eher leer ist, auch an Wochenenden, die Gründe sind mannigfaltig: eine einzige Straße, die als Blankeneser Hauptstraße ab der Ecke Rumöller und „Carroux“-Café Größe suggeriert und am verwaisten, einst traditionsreichen – man sagt Hamburgs Stararchitekt Hadi Teherani habe dort Schönes vor – Fährhaus von Sagebiel vorbeiführt, aber in Wahrheit eine enge, kurvige Einbahnstraße ist, die vom Oberland – dort, wo nun all die Geschäfte, der Bahnhof, der Markt sind – hinunter zum Strandweg führt. Spaziergänger drängeln sich auf engstem Trottoir, Reisebusse passen schlicht nicht durch, die Durchfahrt ist auch für Autos beschränkt und Parkplätze gibt es schon für Blankeneser nahezu keine.
Und dann sind da ja noch die Treppen. Wer nicht gut zu Fuß ist, ist überall anders in Hamburg besser aufgehoben. Das Treppenviertel ist schon seit jeher verkehrsberuhigt, wer keine Garage hat, braucht Glück im täglichen Parkplatzpoker oder fünf bis zehn Minuten vom Auto zur Wohnung, und das macht einen Teil der guten Stimmung aus, die Leute sind einfach viel an der frischen Luft ... Treppauf, treppab, die Winkelgänge, Schlafpuppengärten, Netzgehänge, Boot, Abendbank und Fliesenkram, versponnen, blond und tugendsam. Eng zwar und verwinkelt, ruhig und gediegen, steile Treppen, viele davon akkurate Rampen, die sogar runter die Oberschenkel zum Singen bringen. Man kann sich leicht verlaufen und weiß doch, dass man nicht verloren geht. Wer überwiegend
runtergeht, kommt immer am Strandweg an, hier eine Perle aus Rosen, da ein schönes Haus, da eine Bank unterm
Obstbaum. Und wer sein Glück etwas steuert, landet im „Kaffeegarten Schuldt“ mit Panoramablick oder beim „Treppenkrämer“ von Antonia Farenholtz – ohne weiten
Elbblick, aber mit sehr viel Herz und Liebe – auf ein Käffchen und selbst gebackenen Kuchen. Wer Hang zum Hang hat, ist hier geboren, gern hängen geblieben oder hat eine bewusste Entscheidung getroffen. Nur so funktioniert es, denn wer schon mal die Einkäufe in den sechsten Stock seiner Stadtwohnung geschleppt hat, bekommt eine Idee von den Verhältnissen. Man hört durchs offene Fenster Dinge, die man gar nicht wissen wollte, Streitereien, Liebe, schlechte Witze, Gerüchte und Gerüche, womöglich die HSV-Übertragung aus dem Nebenhaus, sieht absichtslos in Wohnzimmer. Und die Wände haben Ohren. Aber es ist eben auch Blankenese,
gestritten wird zu Hause oder diskret. Man hört ja, das sei hier das Positano, das Nizza oder die Riviera des Nordens. Löblich für die schönen Ferienziele im Süden. Echten Blankenesern kann man ohnehin nicht schmeicheln. Und mit wem soll man sich schon vergleichen? Bei allem Respekt, mit Nizza jedenfalls nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Positano jemand vom Blankenese des Südens spricht. Je weiter man unten ist, je enger, je höher man kommt, desto großzügiger stehen und sind die Häuser. Das kommt noch von früher, die einfachen Fischer unten in Reetdachkaten, die Kapitäne mit Weitblick auf die Elbe weiter oben. Trocken auch bei Hochwasser. Inzwischen gibt es auch am Strandweg Flutschutz. Es brist herauf so meergeschwellt, tief unten
blitzt die weite Welt. Oben finden sich dann auch spektakuläre Villen, einige alt, andere erstaunlich modern, die mit vernehmbarem Murren aus der Nachbarschaft in die Hänge gebaut sind. Ein kleines Nest, ein großes Bild, die Architekten lächeln mild. Thomas G. Mueller,
Stadtteilarchivar, kennt den Klatsch und weiß, wo Otto Waalkes oder Jan-Philipp Reemtsma wohnen, wo es Probleme mit der Baugenehmigung gibt, welcher reiche Reeder seiner Geliebten gerade welches Haus geschenkt hat und warum das eigentlich niemanden was angeht. Dass das alte Sprichwort, man würde sich immer zwei Mal im Leben sehen, hier nicht ausreicht. Sehr viel wissen, sehr viel hören und im besten Fall das Bild von den drei Affen, die nichts hören, sehen, sagen verinnerlichen. Aber da die Spatzen es schon seit Längerem von den hübschen Dächern pfeifen, dass der Süllberg, der alles überragende Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens an der Elbe, im nächsten Jahr den Verlust von Karlheinz Hauser wird verkraften müssen, kann man das auch mal fallen lassen. Diskret natürlich.
Das Treppenviertel ist das Ur-Blankenese. Wie eine gigantische Parabolantenne ausgerichtet gen Süden, der Sonne entgegen, und im Zuge des Klimawandels könnte man auf dem Geestrücken der Endmoräne sicher
auch anständige Weine anbauen. Marcus Boehlich trinkt lieber Bier. Er ist Ozeanograf, hatte 2003 das erste Gutachten für die Elbvertiefung gemacht. Und jetzt – da er gerade in Rente gegangen ist und das Kunststück mit seiner Ehefrau und seiner Ex-Frau unter einem Dach zu leben, entspannt nennt – sieht er das finale Ja zur Vertiefung gespalten. Der Regattachef der Nordseewoche, „ohne Segeln kann man in Blankenese nicht richtig aufwachsen“, lacht, als er sagt: „Wie ein richtiger Blankeneser
bin ich im Tabea geboren.“ Seine Großmutter – eine alte Breckwoldt – antwortete auf ähnliche Fragen meist mit: „Ich weiß nicht, wie lange Sie schon hier sind, wir jedenfalls erst seit 500 Jahren.“
Dann hängt er noch folgenden Witz an: Ein Ameri­kaner, ein Franzose und ein Blankeneser klönen auf der Blankeneser Dampferbrücke (Op’n Bulln). Erzählt der Ami,
seine Vorfahren seien mit der „Mayflower“ im 17. Jahrhundert über den Großen Teich nach Amerika gekommen. Der Franzose führt seine Ahnen bis auf Charlemagne zurück. Der alte Blankeneser nimmt seine Piep aus dem Mund und sagt: „Wir hier stammen von Adam und Eva ab, und sie soll ja eine geborene Breckwoldt sein.“
Und dann schiebt er seine Brille kurz hoch, die Frage
mit dem Blankeneser ist hinlänglich geklärt und schickt uns zu seinem Onkel auf der anderen Straßenseite, den er fast zärtlich den alten Schnacker nennt. Kapitän Jochim Westphalen ist ein Blankeneser Original, ein wunderbarer Kerl von guten 80 Jahren mit festem Händedruck und gewinnender Art, der gleich loslegt und uns Jungs im Alter von gut 50 Jahren duzt: „Es ist mein Dünkel, dass ich in Brunsbüttelkoog geboren wurde, mein Vater war da Schleusentaucher, später sind wir dann nach Blankenese gekommen. Damit ziehen die mich heute noch auf.“
Der Kapitän stellt kaltes Bier auf den Tisch, es ist nach zwölf Uhr. Dann holt er die Europa-Flagge rein, zieht Blankenese hoch. Darunter Flaggen hin und her, des Stromes Überseeverkehr. „Alle anderen orientieren sich nach dem, was ich geflaggt habe.“ Der Blick ist wie von einem Schiedsrichterstuhl mittig auf das gesamte Quartier, die Elbe, Airbus, das Alte Land, die Estemündung, wo er, wenn die Flut das erlaubt, mit seinem historischen Tuckerboot auf eine Scholle mit Petersilie rüberfährt. „Ich gucke immer auf die Elbe, meine Frau in den Garten. Seit 1962, dem Jahr der großen Flut, wohnen wir hier. Den Hochzeitstermin habe ich verpasst, es war Sturm, und Funken durften wir nur in Notfällen, nicht, um eine Hochzeit zu verschieben. Ich war auf See, der Sturm kam auf, wir machten in Schulau fest. Windstärke 12, das Heulen werde ich nie vergessen. Wir waren umsichtig, aber haben wohl viel Glück gehabt“, sagt er nachdenklich. „Eine Woche später haben wir
geheiratet, es war wie eine Trauerfeier, über 300 Hamburger waren in der Katastrophe umgekommen.“
Das ist lange her. Und unvergessen. Und das Treppenviertel bleibt, was es immer schon war: Ein Kleingebirg aus bunten Muscheln, darüber dick die Wolken kuscheln. Ein Dorf, das wie ein Eden liegt und sanft nach Grog und Flundern riecht. Von angenehmen Parks verschönt, von einer Gastwirtsburg gekrönt. Wir sehen uns. Im Sommer Op’n Bulln, wo Containergiganten, schnieke Jollen und schnelle Motorboote Parade fahren. Und der alte Westphalen vorbeituckert. Mit was will man das denn bitte vergleichen?

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 48

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