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Ortsporträt –

Friedhof Ohlsdorf

 

 

AUTOR: TILL BRIEGLEB

FOTOS: BERND NASNER

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 42

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Er sieht so aus, wie Kinder sich den lieben Gott vorstellen. Langer weißer Rauschebart, aufmerksame Augen, eine Ausstrahlung freundlicher Ruhe. Nur Gott würde vermutlich keine Herbstblätter sammeln, um daraus bunte Arrangements auf den Boden zu legen. Und Gott heißt auch nicht Peter. Aber auf Gottes Acker in Hamburg ist der Achtzigjährige so eine Art Stellvertreter. Er wandelt über die Gräber, hilft Besuchern unaufgefordert, die richtige Ruhestätte zu finden. Und wer sich über den leichtfüßigen Greis wundert, wie er da als Säulenheiliger vor Kreuzen und Trampelpfaden seiner naturkünstlerischen Tätigkeit nachgeht, den oder die spricht er auch mal an und erzählt einiges aus seinem früheren Vagabundenleben.
St. Peter ist der gute Geist des Ohlsdorfer Friedhofs. Man trifft ihn an den verschiedensten Ecken des weltgrößten Bestattungsparks. Und diese frohgestimmte Erscheinung ist hier deswegen so eine schöne Begegnung, weil sie Humor und Leichtigkeit auf dem Feld der Trauer verstrahlt – und damit den Widerspruch dieser Nekropole in Herzlichkeit auflöst. Denn das vier Kilometer lange Areal mit seinen 200.000 Grabstätten musste von Anfang an die komplizierte Forderung umsetzen, sowohl den Toten wie den Lebenden zu dienen, als Gräberfeld und Volkspark. 


„Der Friedhof soll nicht eine Stätte der Toten und der Verwesung sein“, wünschte sich der Erfinder dieser kommunalen Begräbnisstätte, Johann Wilhelm Cordes zur Eröffnung 1877: „Freundlich und lieblich soll Alles dem Besucher entgegentreten.“ Doch das ist emotional ein schwieriges Unterfangen. Im Kaiserreich verstand man unter Erholung wohl noch den getragenen Waldspaziergang in Memento-mori-Stimmung zwischen Baumhölzern aus aller Welt. Zeitgenössische Freizeit wie im Stadtpark kann man zwischen Grabsteinen und Mausoleen, Aussegnungshallen, Kolumbarien und Urnenfeldern aber nicht in gleichem Maße umsetzen. 
Denn selbstverständlich sind Grillpartys und Cliquenbesäufnisse, Rolling Stones und Nacktsonnen, kreischende Planschkinder und Fußball in Ohlsdorf tabu. Und deswegen hat es der landschaftlich vielleicht schönste, auf jeden Fall aber vielfältigste Park der Stadt etwas schwer, den zweiten Teil seines Versprechens einzulösen: neben dem Feierlichen auch das Frohgemute zu fördern. Außer Gruftis und Personen mit morbider Tagesstimmung finden wohl nur noch Menschen mit großem Ruhebedürfnis wie der Rauschebart St. Peter hier einen idealen Ort.


Dabei wirkt der romantische erste Teil, den Cordes konzipiert hatte und bis zum Ersten Weltkrieg als Direktor fortentwickelte, wie eine Motivsammlung nach Caspar David Friedrich in live und prall. Zwischen rund 450 unterschiedlichen Gehölzen, darunter so exotische Arten wie Schlangenhautkiefer, Farnblattbuchen, Sawara-Scheinzypressen, Schimmelfichten oder Kaukasische Flügelnuss, finden sich Haine, Nischen, Hügel und Inseln mit bemoosten und teils überwucherten Prachtgräbern und Kreuzen, dazwischen liebliche Teiche und Bachläufe, Treppenanlagen, Brunnen und Kapellen in allen Stilen des Historismus. 
Besonders im nördlichen Teil rund um den „Stillen Weg“ umarmt der parkprägende Rhododendronbusch künstlerische Grabarchitekturen in dichtem Wald. Hier fühlt man sich ständig wie auf den Spuren Arnold Böcklins oder Karl Friedrich Schinkels. Von Toteninsel zu Toteninsel gleitet man über saftige Waldwege vorbei an Prachtgebilden des 19. Jahrhunderts mit opulentem Figurenschmuck. 


Eine Armee trauernder Frauen mit und ohne Flügel, gesenkten Hauptes, aber auch klagend hinauf zum Sitz Gottes, bevölkert vornehmlich die Familiengräber, die klassizistischen, neogotischen, pseudogermanischen und Jugendstil mischen. Aber auch nackte Krieger und Soldaten mit Pickelhaube krönen die Gräber, Panzer in der Sowjetunion oder Dreimaster auf den Weltmeeren erscheinen als Reliefs, lesende Knaben und Küssende wechseln sich bei der Totenwache ab mit Spatzen, Nagern, Elefanten, Löwen und Adlern. Oder Allegorien in griechischen Togen und Karyatiden in Rückenansicht illustrieren die vielfältige symbolische Sprache der Trauer.
Diese Kunstausstellung des Abschiednehmens, die angeblich rund 800 Exponate reich ist, beschäftigte um die vorletzte Jahrhundertwende mehr die Bildhauer als die Steinmetze. Doch leider galt Figürliches mit dem Aufbruch in die Moderne viel zu früh als kitschig und eitel. Parallel zur Verdoppelung der Parkfläche hinüber ins preußische Bramfeld, die Cordes’ Nachfolger, Otto Linne, ab 1917 im streng rechtwinkligen Stil durchführte, durfte auch der Grabstein nur noch protestantisch wirken. Ab der Hälfte des Parks, wo die kurvigen Wege von Cordes durch die klaren Kreuzungen Linnes abgelöst werden, sind Geister Mangelware, Askese Pflicht.


Und trotzdem befindet sich hier im äußersten Winkel des Bestattungsparks, hinter den kühl-abstrakten Mahnmalen für die Opfer des Naziterrors, des Bombenkriegs und der Sturmflut von 1962, der einzige Stelengarten, dessen Pietät Humor erlaubt: Auf dem iranisch-islamischen Sektor lachen die Toten vom Grabstein, es wimmelt von lustigen Putten. Dekoration ist erlaubt, sei es ein Fußball, Herzchen oder Goldrahmen. Und hier steht auch der globale weiße Plastikgartenstuhl herum, damit Grabpflege und Zwiegespräch mit den Toten kein Herumrobben auf den Knien wird wie im christlichen Teil.
Cordes hätte seine Freude an diesem Areal gehabt, denn bei solch netter Botschaft an das Leben denkt niemand an Verwesung. Doch bis hierher, eine knappe Stunde Fußmarsch vom Haupteingang entfernt, kommt auch nur, wer wirklich eigener Toten gedenkt. Außer der tonnenförmigen Klinker-Kapelle 13 von Hamburgs einstigem Oberbaudirektor Fritz Schumacher, die den Schlussstein der Anlage bildet, finden sich die publikumswirksamen Zeugnisse der Sepulkralkultur nicht in diesem rationalen Teil des Friedhofs. 
Grabflaneure auf der Suche nach Prominenten und Monumenten kommen dagegen rund um den Haupteingang auf ihre Kosten. Hier steht als architektonisches Pendant zur Kapelle 13 das trapezförmige Backsteinkrematorium Schumachers von 1932 mit der Glasfensterhalle und den goldenen Lettern unter der Dornenkronenuhr. Jedem S-Bahnreisenden zum Flughafen geben sie die Nachricht mit: „EINE VON DIESEN“ – was man im Kopf ergänzen muss mit: „… Stunden wird die deine sein.“ 
Schumachers letzter Bau, nach eigener Aussage sein „persönlichster“, beherbergt das Forum Ohlsdorf, wo Besucher den Führer zu den Prominenten-Gräbern erhalten, mit dem das Herumirren im Pfadlabyrinth etwas erleichtert wird.


Rechts neben dem zentralen kargen Gedächtnishain, wo neben Philipp Otto Runge und Fritz Schumacher vor allem vergessene Lokalberühmtheiten mit schmucklosen Platten gewürdigt sind, liegen kaum auffindbar hinter Rhododendronwucherungen die verwitterten Grabplatten von Gustaf Gründgens und Ida Ehre. Einige der opulentesten Schaugräber ragen auf der benachbarten Anhöhe empor, bilden eine Art Grenze für das zentrale Areal individualisierter Selbstdarstellung reicher Leute aus der Vergangenheit. Diesem Skulpturengarten mit Tempelchen, großer Engelkonkurrenz und vielen Halbnackten in ernster Pose, aber auch mit Grabsprüchen wie „Leuchte und kämpfe, siege und sterbe!“, folgt in nördlicher Richtung die Dichterecke. Dort liegt Hamburgs langjähriger Bürgermeister Henning Voscherau, obwohl wahrlich kein Dichter, direkt neben Wolfgang Borchert. Harry Rowohlt schläft in die Ewigkeit unter einem der hier typischen Riesenfindlinge neben seinem alten Eppendorfer Frühschoppenfreund Hellmuth Karasek. Das eingefallene Grab des Lyrikers Hans Harbeck krönt ein Rehkitz, und Richard Ohnsorg ruht unter einem Pferdegiebel.


In dem anschließenden Waldstück, in dem die maximale Verwunschenheitsstufe erreicht wird, finden sich dann neben Carl Hagenbeck und Witta Pohl noch einige Kulturnaturen. Zum blonden Hans im Familiengrab der Albers ist es ausnahmsweise ausgeschildert. Den berühmtesten aller Theaterkritiker, Alfred Kerr, muss man aber selbst suchen. Stromernd findet man dabei auch kleine Hakenkreuze oder Wehrmachtshelme, manchmal in Kombination mit Gesinnungssprüchen wie: „Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste.“


Verglichen mit Kulturen, für die Protz kein Makel ist, finden sich in Hamburgs Zauberwald aber vergleichsweise wenig große Monumentalschnörkel. Das zeigt sich nirgends deutlicher als an der Kapelle 7, wo eine Handvoll Mausoleen vor sich hin rottet. Auf einem Wiener oder Pariser Friedhof wäre ein solch schmachvolles Asyl am Friedhofsrand undenkbar, wo das repräsentative Desinteresse des Hamburgers durch eingeschmissene Scheiben und Vermoosung belegt ist. Vor allem das größte Mausoleum des Johann Heinrich Schröder von 1906, eine Adaption von Theoderichs Kuppelgrab in Ravenna, sieht aus wie nach einer Gotenplünderung.
Doch in dieser verschämt platzierten Totenstadt befinden sich auch zwei der bizarrsten Objekte, die der Friedhof zu bieten hat. „Das Schicksal“, eine Skulptur von Hugo Lederer aus dem Jahr 1905, und das Mausoleum des Fotografen F.C. Gundlach. Während die ausdruckslose Barbusige ein junges Paar an den Haaren über den Boden seinem Schicksal entgegenschleift, zeigt das noch leere Mausoleum Gundlachs, wie man die spartanische Ehre des Hanseaten doch ins Eitle wenden kann. 
Im Kreis der heroischen Stile alter Zeiten, die mal griechische Tempel, mal das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig zitieren, wirkt die kubische Betonnacktheit von Gundlachs Mausoleum zunächst als maximaler Fremdkörper. Aber mit dem Relief nach einem Modefoto, das Gundlach 1966 in Gizeh aufgenommen hatte, schmückt er die Außenwand als vielleicht einziger Grabbesitzer auf dem Friedhof mit einem eigenen Werk. Spätere Generationen mögen sich an diesem Einfall genauso freuen wie heutige Besucher an den Grabwächtern des Kaiserreichs. 


St. Peter betrachtet sich dann längst die Gänseblümchen von unten, wie er lächelnd und furchtlos sagt. Er wird sich nicht mit einem prachtvollen Stein in Erinnerung halten. Der gute Geist des Ohlsdorfer Friedhofs verwelkt dann vielmehr langsam in den farbigen Erinnerungen der Menschen, die ihm hier begegnet sind. Wie seine Laubkunstwerke. Wie jeder von uns.

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