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Johanna Baare & Anne Lamp

TRACELESS

Text: Simone Rickert | Fotos: Ivo von Renner

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 55

Wie erfindet man DAS Material, das eines der größten Probleme der Umweltverschmutzung zu lösen vermag? Setzt man sich hin mit der Aufgabe, ich will kompostierbares Plastik entwickeln? Oder experimentiert man so lange, bis etwas Neues entsteht, und schaut dann, wozu das wohl zu gebrauchen ist? Anne lacht: „Bei technischen Innovationen ist es eher selten, dass man sagt: Das will ich, und dann hat man’s.“ Eher entdecke man in der Forschung eine bestimmte Funktionalität und gehe dann einem sinnvollen Einsatzbereich nach. Die gebürtige Hamburgerin hat sich im Rahmen ihrer Promotion zur Verfahrensingenieurin an der TU Hamburg-Harburg mit Biomolekülen beschäftigt und dabei entdeckt, dass deren Eigenschaften denen von Plastik ziemlich ähnlich sind. Im Kern nichts Neues, so wurde Plastik vor 90 Jahren erfunden, aber komplett neu gedacht. Bioraffinerie, Annes Forschungsschwerpunkt, nennt man die verfahrenstechnische Umsetzung von Abfallstoffen zu Wertstoffen. Der Grundgedanke war da. Darauf folgte die Erkenntnis, dass man mit diesem Naturmaterial Plastik ersetzen kann, ohne Erdöl, ohne Chemie. Und es dämmerte ihr, dass da ein sensationell riesiger Markt ist, das Potenzial für den Umweltschutz gigantisch. Aktuell landen 40 Prozent des Plastikmülls weltweit nicht auf Deponien, sondern in der Umwelt, elf Millionen Tonnen davon pro Jahr in den Ozeanen. Das ändern? Da kann einem schon mulmig werden.

Bei einem Start-up-Inkubator lernte sie Johanna aus Münster kennen. Sie hat Psychologie studiert und arbeitete bereits als Business-Developerin bei einer Strategieberatungsfirma. Genau die
Ergänzung, die Annes geniale Erfindung brauchte – und außerdem mochten die beiden sich auf Anhieb. Zusammen gründeten sie 2020 das Unternehmen traceless materials, das seitdem in rasender Geschwindigkeit die Entwicklungsstadien eines innovativen Biotechs durchläuft: Labor, ja, Pilotprodukte, ja, Proof of Concept, ja, interessierte Investoren, reihenweise, erster Kunde der Versandhauskonzern Otto, Patent veröffentlicht, EU-Accelerator-Förderung, Due Diligence, Life Cycle Assessment, ja, ja, ja … Nächster Schritt, die Industrialisierung des Produkts, die Skalierbarkeit nach ganz oben. Johanna rattert das alles herunter, während die neue Anlage nebenan das marktreife Produkt in Mengen ausspuckt. Sie wollen das Granulat weiter selbst herstellen, dazu den Prozess in aller Welt lizenzieren, sodass Transportwege ausfallen. Und es klingt – machbar und wunderbar!

Wir haben die beiden zuerst beim „Darboven IDEE Förderpreis“ kennen­gelernt, bei dem eine Top-Jury unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Dagmar Schipanski Gründerinnen mit nachhaltig innovativen Geschäftsideen auszeichnet und bei jeder Bewerberin wirklich ganz tief in die Materie eintaucht. Der wahrhaft nachhaltige Lebenszyklus hat sie überzeugt. Vom Rohmaterial über die Produktion bis zur Entsorgung berücksichtigt er alle Wirkungsindikatoren. Und damit unterscheidet sich trace­less von allen anderen Bio-Kunststoffen, die bereits auf dem Markt sind, aber entweder eine negative Landnutzungs- und CO2-Bilanz in der Herstellung haben oder speziell entsorgt werden müssen. trace­less wird gewonnen aus Abfällen der Weizen und Mais verarbeitenden Lebensmittelindustrie, die sonst zur Entsorgung an Tiere verfüttert werden, die die Aminosäureketten nicht mal besonders gut verstoffwechseln, oder sie werden in Biogasanlagen verbrannt. Für beide Verwendungen gibt es umweltverträglichere Alternativen. Wie man natürliche Polymere separiert und neu mischt, um daraus geeignetes Rohmaterial für wahlweise Folien, Lacke, Papierbeschichtungen oder feste Gegenstände zu gewinnen, das ist das eigentliche Geheimnis von traceless.

„Wie beim Nudelnkochen: Das Wasser abgießen, übrig bleibt Pasta al dente“, Anne erklärt ihre Innovation ziemlich einfach, während sie im Labor an einer alten Fruchtpresse steht, an der sie die Weiterverarbeitung ihres Materials zuerst erprobt hat. Das Granulat kommt oben rein, Wärme dazu, unten kommt ein Strohhalm raus. Der Reiz dieser Vorführung: Der verfahrenstechnische Prozess funktioniert auch im Großen mit Maschinen, die es schon gibt. Plastik weiterverarbeitende Fabriken können traceless für ihre Kunden formen wie bisher: Farbe, Konsistenz, Bedruckbarkeit, lebensmittelecht ist es auch. Und der Verfall? Kommt erst in Gang, wenn Kompostbedingungen herrschen, dann aber ziemlich schnell. In zwei bis neun Wochen ist alles verschwunden, gut verdaut von in der Erde vorhandenen Mikroorganismen, die sich mit großem Appetit auf die ihnen aus der Natur vertrauten Polymere stürzen und diese in Dünger verwandeln. Und solange wir Menschen uns von Brot und Bier ernähren, ist der Rohstoff für traceless mehr als ausreichend verfügbar. Ein perfekter Kreislauf. Und je schneller dieses Hamburger Unternehmen wächst, desto besser. Im Preiskampf mit Plastikfabriken können sie nämlich absolut mithalten, sobald sie groß sind!

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