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Kitchen Guerilla

KORAL & ONUR ELCI

Text: Regine Marxen | Fotos: Seren Dal; Grischa Kaufmann

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 50

„2020 hat keine Wunden hinterlassen, die nicht heilbar wären. Aber es hat uns, und damit meine ich der gesamten Gesellschaft, einen Denkzettel verpasst“, sagt Onur Elci, einer der beiden Macher der Kitchen Guerilla. Der andere heißt Koral, ist sein älterer Bruder, studierter Produktdesigner und zugleich Gründer jener mobilen Kocheinheit, die mit Veranstaltungen wie der Ramen Disco, Ayshe Rustikal oder Muschelrock weit jenseits der Hafenkante Hamburgs neue Maßstäbe in Sachen Event-Gastronomie setzte. 2009 entstand diese Idee, Onur stieg schon bald nach der Gründung mit ein, 2015 schließlich beschlossen die beiden, das Projekt in ein Unternehmen zu überführen und teilen sich bis heute die Geschäftsführung. Seitdem hat sich viel getan. „In den letzten vier Jahren ist unsere Guerilla-Familie auf über 20 Leute angewachsen“, sagt Koral. „Inzwischen machen wir nicht mehr nur Veranstaltungen, wir produzieren Content, beraten, spinnen Konzepte und kochen für die Kantinen großer Digitalkonzerne.“ 2020 sollte das Jahr des Wachstums werden. „Wir hatten viele Pläne, nicht einer wurde Realität. Das hat uns an unsere unternehmerischen und kreativen Grenzen gebracht. Aber uns auch gezeigt: Krise können wir.“

Die Krise. Sie kam wie ein Tsunami. Erst leise, dann gewaltig. Spätestens Mitte des vergangenen Jahres war den beiden klar: Es kann sein, dass bis 2022 keine großen Events mehr stattfinden werden. „Was für ein Unternehmen, das die Hälfte seines Umsatzes mit Events macht, ziemlich tragisch ist“, bringt Onur es auf den Punkt. Aber den Kopf in den Sand stecken, liegt den Brüdern nicht, das Machen schon eher. Das, so Koral, würde ihnen in den Genen liegen. „Onur und ich waren in vielen Ländern unterwegs, in denen man Krisen gewöhnt ist. Wir sind in der Türkei groß geworden, ich lebte zum Beispiel in Argentinien, Onur in Spanien, das sind Ecken, die von Militärputsch oder Wirtschaftskrisen gezeichnet sind. Das hat uns in unserer Grundeinstellung bestärkt: schnell sein, kreativ sein, lösungsorientiert arbeiten.“ Onur und Koral sind Netzwerker. Ideen und Menschen zusammenzubringen, ist Teil ihrer Geschäftsphilosophie. Bei Kitchen Guerilla geht es um viel mehr als um gute Speisen, es geht ums Verbinden – und so warfen sie zu Beginn der Pandemie rasch ihr Netzwerk an und begannen neue Konzepte zu spinnen. Heraus kamen Projekte wie die SoliKüche, bei der das Team für Bedürftige und Obdachlose kocht, sie schlossen sich der Aktion Kochen für Helden an und versorgten Beschäftigte in Funktionsberufen während des Lockdowns mit frischem Essen. „Bis heute haben wir allein für die SoliKüche über 15.000 Portionen zubereitet“, sagt Koral. Darüber hinaus verfassten sie mit ihren Hamburger Mitstreitern Jo Riffelmacher von Salt & Silver und Patrick Rüther einen offenen Brief an die Stadt, der in einer Petition an das Bundesministerium für Wirtschaft mündete, die 130.000 Menschen unterschrieben. „Wir wollen Teil der Lösung sein. Sprecht mit uns!“, so die Bitte. Ihr Engagement brachte dem Trio den „Rolling Pin-Award 2020“ als Gastronomen des Jahres ein. Um den Wegfall der Events und des Kantinengeschäfts zu kompensieren, entwickelten die Kitchen Guerillas zudem eine neue Fertigproduktlinie für den Lebensmitteleinzelhandel und produzierten Lunchboxen für Unternehmen. „Wir waren sehr umtriebig“, sagt Koral. „Wir sind Kämpfer. Kitchen Guerilla hat eine Haltung, einen eigenen Stil“, fügt Onur hinzu. „Darauf bin ich stolz. Ich nutze das Wort ‚stolz‘ nicht oft, ich mag es eigentlich nicht. Aber hier passt es.“

Eine Marke mit Kante haben die Brüder Elci kreiert, sie sind Mastermind des Ganzen, lassen aber ihren Mitarbeitern und sich selbst viel Raum. Alles, was ihr Basecamp in Altona verlässt, kommt aus ihnen selbst, aus dem Team heraus: Rezepte, Konzepte, Bilder, Videos. Kitchen Guerilla kann überall auf der Welt funktionieren, ist im Kern aber zu 100 Prozent Hamburg. „Weil wir Hamburger sind“, sagt Onur. Für seinen Bruder, der zum Studieren vor zwei Jahrzehnten nach Hamburg kam, präsentiert die Hafenstadt die weltoffenste Seite von Deutschland. „Sie ist so bunt und offen wie Kitchen Guerilla.“ Onur lebt seit 18 Jahren in dieser Stadt, auch er hat hier studiert und zuvor in der Werbung gearbeitet. „Mein erstes Jahr in Hamburg war furchtbar. Ich hatte Liebeskummer, der Winter war kalt. Aber dann habe ich mich in diese Stadt verliebt.“

Kitchen Guerilla und Hamburg, das spielt so gut zusammen wie gegrillte Birne und Gorgonzola. Oder Kichererbse mit Makrele, um zwei ihrer Rezepte zu zitieren. Auch 2021 haben die Gebrüder Elci viel geplant, zum Beispiel den Relaunch ihrer Fertigproduktserie und die Expansion der Lunchboxen. Gleich zwei Kochbücher werden in diesem Jahr ihr Haus verlassen: das eigene und das von Korals 15-jähriger Tochter Lea. Sie bringt ein Weltretter*innen-Kochbuch heraus, das in Teilen in der Kitchen Guerilla produziert wurde. Erdacht hat es die junge Auto­rin im Rahmen eines Schulprojekts. Auch die SoliKüche läuft weiter und wird in einen gemeinnützigen, spendenfinanzierten Verein überführt. „Wir arbeiten bereits an einem Foodtruck, den wir mithilfe von Sponsoren in eine mobile Küche umbauen lassen, um Bedürftige und Obdachlose auf der Straße mit gutem Essen versorgen zu können“, erläutert Koral. „Und dann gibt es noch viele Ideen für großartige Events, auf die sich alle freuen können, wenn es wieder losgehen kann.“ Viva la Guerilla! Wir freuen uns darauf. Oder, um es mit Onurs Worten zusammenzufassen: „Ich blicke in das neue Jahr sehr positiv – mit
einem leicht sarkastischen Lächeln im Gesicht.“

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