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Michel Ruge

WELTENSAMMLER

Text: David Pohle | Fotos: Jo Fischer; Giovanni Mafrici

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 51

Die Straßen sind verwaist, Schneeregen spiegelt Rotlichtreste aufs Kopfsteinpflaster der Davidstraße, es ist dunkel, alles ist zu. Hinter mir der ewige „Lucullus“-Imbiss auf der Reeperbahn, vor mir die vernebelten Lichter vom gähnend leeren Dock 17. Auch bei Blohm+Voss ist nichts los. Ich bin auf dem Weg zu Michel Ruge, der Stimme von Sankt Pauli, die ohne verdunkelte Sonnenbrille oder hochtoupierte Haare in der ganzen Stadt Gehör findet, wenn es um Belange des Stadtteils geht. Ruge ist hier 1969 geboren, in einem Stundenhotel und auf der Straße aufgewachsen, der Kiez sein Spielplatz. Der Vater besaß drei Bordelle. Die Mutter arbeitete als Kellnerin in einer Bar. Vieles, was er seitdem gelernt hat, hat er von hier.

Und das passt in keinen klassischen Hamburger Strampelanzug: Schauspielschule, Kommunarde, Tänzer, Bodyguard und Kampfsportlehrer mit höchsten Weihen, in den letzten Jahren vor allem Bestseller-Autor mit einer ob des Erfolgs erstaunlichen Hassliebe zum Schreiben und ein ernst genommenes Sankt-Pauli-Original. Immer war er hier. Moment, das stimmt nicht, zwischendurch war er in Berlin. War viele Jahre Türsteher der heißesten Nachtclubs in Mitte. Selbst ein Star der Nacht. Einer der Mitte-Boys, die blendendes Aussehen mit Fähigkeiten in Straßenpsychologie und nötigenfalls auch schlagkräftigen Argumenten vereinten. „Es ist keine Kunst, sich zu prügeln, die Kunst ist es, zu wissen, wie man das beendet“, doziert er und ergänzt: „Weil ich das kann, bin ich ein Experte für Zivilcourage und Selbstverteidigung geworden.“ Hach, die Berliner Zeit: Ruhm, Geld, Gewalt, Drogen, Sex. Ruge hat auch über diese Zeit ein rauschhaftes Buch geschrieben. Ein Berlin-Klassiker, der ebenfalls Bestseller wurde. Was blieb? Die walisische Fußballlegende George Best sagte einst auf die Frage, wo sein Vermögen geblieben sei: Ich habe viel Geld für Frauen, Alkohol und schnelle Autos ausgegeben, den Rest habe ich verprasst. Das könnte auch von Ruge kommen. Nur war Best damals am Ende seines Lebens, Ruge hatte eh kein Vermögen, scheint das Schönste noch vor sich zu haben, bereut nichts und lebt und liebt das Leben so prall, wie es irgend geht.

Irgendwann war er fertig mit Berlin, fühlte sich nicht zu Hause und kam zurück. Auf seinen Kiez.
Er wohnt mittendrin, kurz hinter „Cuneo“ rechts, Erichstraße. Tattoo- und SM-Clubs nebenan. Parallel verläuft die berühmte Herbertstraße, der Hans-Albers-Platz ist nur ein paar Schritte weiter, und das Tuten der Schiffe hört man Tag und Nacht. Vier Stufen hat Michels Treppe zur Eingangstür, quasi sein Social-Media-Fenster in die Welt, wo er Leute, die was zu sagen haben, regelmäßig – je nach Laune – zum Espresso oder Schampus lädt. Heute ist die Treppe nass, stattdessen geht die Tür auf, herzlich wird begrüßt, ich stehe gleich mitten in der Küche, die eine fulminante Kaffeemaschine und ein gelebter, mit Fotos vollgeklebter Kühlschrank gut füllen.

Annika Ruge hat geöffnet. Vor gut einem Jahr haben sie sich kennengelernt, schnell festgestellt, dass sie sich so gut verstehen, dass Michel sie beiläufig fragte, ob sie nicht gleich heiraten wollten. Fand sie nur mittelmäßig romantisch. Trotzdem: Ja. Aber dann in New York. Annika ist im neunten Monat schwanger, sieht toll aus und kocht mit leichter Hand Pasta. „Die habe ich von einem Freund, direkt vom Vesuv“, sagt Michel. „Meine Spaghetti Carbonara sind übrigens die besten, nur einmal sind sie kalt geworden. Da hatte ich Annika zum Dinner eingeladen, als die Kiezjungs Stadtführung machten, fragten, ob sie kurz reinkommen könnten. „Klar“, sagte Michel, und schon standen 20 Leute aus der Speckgürtelprovinz in seinem kleinen Esszimmer, Augen weit offen, Münder auch, um vergangene Kiezgrößen wie Hanne von der „Ritze“, Domenica, Harry vom gleichnamigen Hafenbasar, Kiezkönig Willi Bartels oder den Paten Wilfried Schulz auf den Schwarz-Weiß-Fotos des selbst ikonischen Sankt-Pauli-Fotografen Günter Zint zu bewundern. Ein paar andickende Anekdoten später waren die Nudeln eben kalt. Der Liebe tat das keinen Abbruch, im Gegenteil.

Ein Lichtblick, denn St. Pauli steckt in einer existenziellen Krise, findet Ruge. Früher gab es im Milieu starke Persönlichkeiten, Künstler, Wirte, Freidenker, Freaks und Zuhälter haben hier das Leben gestaltet, Typen wie Wolli Köhler, der Boxer Norbert Grupe (aka Prinz Wilhelm von Homburg) oder Dieter Bockhorn, der mit Uschi Ober­maier durchbrannte und seinen alten Käfer immer mit steckendem Schlüssel stehen ließ. Wer den klaut, hat ihn nötiger als ich und kann ihn gern haben, hat Bockhorn einst gesagt. Und Ruges Augen leuchten. Die Spießigkeit und das Kleinbürgertum blieben außen vor. „Was hier passierte, blieb hier“, sagt Ruge, „über Toleranz hat niemand geredet, die war da, wurde gelebt.“ Wer bürgerlich durchs Raster fiel, fand hier einen Platz. Damit war St. Pauli z. B. der Genderdiskussion um Lichtjahre voraus. Jetzt gerät Ruge in Fahrt: „Bald kommen nur noch Touristen hierher und bestaunen sich gegenseitig, weil alles Authentische inklusive echter kultureller Vielfalt weggentrifiziert wurde. Wenn es nur noch um Kiosksaufen und Billigangebote geht, die Stadt nichts dagegen tut, brennt auf St. Pauli bald kein Licht mehr, was wir sehen wollen.“

Inzwischen sind die Nudeln fertig, es laufen melancholische Schmachtsongs der Woodstock-Ära, Joan Baez krächzt „Bobby McGee“, Melanie Safka „Ruby Tuesday“. Das Porzellan ist von Annikas Großmutter, die Bleikristallgläser von einer Vier-Jahreszeiten-Hotelauktion. Ein hippes Checker-Pig-Fahrrad lehnt an der Wand. Champagnerflaschen im Kühler warten auf Trockeneis. Und Anlässe.
„Investoren teilen St. Pauli auf. Es geht nur noch da­rum, wer die größten Stücke vom Kuchen kriegt, am meisten Rendite rauszieht“, redet sich Ruge in Rage. „Früher haben alle hier gelebt, heute pressen die den Kiez aus und fahren danach wieder in ihre Häuser in Pinneberg oder Norderstedt. Und das treibt mich sehr um. Von Haus aus habe ich ein gutes moralisches Gerüst und einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das braucht man hier, denn viele, die das echte St. Pauli ausmachen, haben keine Stimme.“

Der Abend ist länger geworden, inzwischen laufen die Stones. „Wie siehst du dich eigentlich selbst?“, möchte ich wissen. Und Ruge setzt an, schaut auf Annika und die springt ein: „Michel ist ein Weltensammler, voller Energie, Kreativität und Lebenslust. Wenn ihn etwas packt, dann gibt er erst Ruhe, wenn es vollständig durchdrungen ist. Dann verliert er das Interesse und sucht sich was Neues.“ Ruge nickt, grinst. So kurz zusammen, so eng verbunden, so verstanden. „Wenn du auf St. Pauli aufgewachsen bist, denken die Leute automatisch, du seist asozial, gewalttätig und kriminell. Ich habe immer im Milieu gelebt, bin aber nie auf die dunkle Seite übergetreten. Deshalb bin ich hier. Ich liebe aber diese anarchische Männlichkeit, toxisch, nenne ich die. Das ist Souveränität. Mir geht am Arsch vorbei, was die Leute sagen. Und deswegen hört man mir zu. Weil ich nicht korrumpierbar bin und weil ich am Ende eine sehr ehrliche, unverstellte Haut bin.“ Und fügt noch hinzu: „Ich kann – vor allem jetzt in Pandemie-Zeiten – das Jammern nicht mehr hören. Wir leben doch nicht in einer Vollkaskogesellschaft. Mein Motto ist mit stolzgeschwellter Brust eher: St. Pauli grüßt den Rest der Welt.“

Das war ein guter Abend. Als ich über die vier Stufen in die Nacht entlassen werde, schwarzen Regen im Gesicht und mich durch die leeren Gassen treiben lasse, denke ich: Optimist ist er auch. Zwei Wochen später wird Jaguar geboren. Eine echte St. Paulianerin.

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