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Nissim Mizrahi

LEBENSKÜNSTLER

Text: Regine Marxen | Fotos: René Supper

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 59

Er darf den Popstar im Studio besuchen, mit ihm jammen und veröffentlicht kurze Zeit später einen von Gzuz geschriebenen und produzierten Song, der in die Charts kommt. Klingt unwahrscheinlich? Okay, vielleicht klingelt unser Junge eher bei den Jungs von Fettes Brot? Die Story wird nicht wirklich wahrscheinlicher, oder?!

Aber es gab so eine Geschichte in Hamburg! Der Junge, der heute nicht mehr ganz so jung ist, heißt Nissim. Und der klingelt als 15-Jähriger mit den Jungs aus seiner Schülerband bei einem gewissen Udo Lindenberg im Mittelweg in Pöseldorf und macht wenig später mit ihm tatsächlich eine Platte, die es in die Charts schafft. Das Cover von „Englandfähre“ hängt im „Café Liebling“ in der Hartungstraße, gleich gegenüber der Hamburger Kammerspiele. Dort ist Nissim heute seit fast 15 Jahren Gastronom, Gastgeber, Entertainer, Künstler. Er lebt dort als bodenständiger Lebenskünstler, als Musiker und Vater.
Zwischen Udo und dem „Café Liebling“ liegen rasante Jahrzehnte und zahllose Anekdoten: mit Uschi Obermeyer, dem großen Foto-grafen Daniel Josefsohn, mit Ayman, den Musikern Jan-Christof Scheibe und Miles Roberts. Und all diese Anekdoten erzählt er mit einer Stimme, die unfassbar markant und vertraut ist. Vor allem das Vertraute kommt natürlich nicht von ungefähr: Nissim, aufgewachsen im Grindelviertel, mit deutscher wie auch israelischer Staatsbürgerschaft, hat gefühlt die Hälfte aller bekannten Jingles eingesungen – von Gillette über McDonald’s bis Douglas. Aber das war später.

Erst hat er, fast noch als Kind, in einer Kneipe in Eimsbüttel gespielt. Wahrscheinlich im „Adler“, das damals dem Freund von Uschi Obermeyer gehörte. Die ist anschließend für ihn mit einem Hut rum, und Nissim konnte sich danach eine neue Gitarre leisten. Den Bus von Obermeyer hat er dann nur ein paar Jahre später, als er mit Daniel Josefsohn von Florida rüber nach L. A. gefahren ist und die Westküste runter, wiederentdeckt und zwei Wochen bei ihr und – leider auch – ihrem Freund gewohnt. „Ich war so verliebt in sie!“ Nur wenig später macht er mit Anfang 20 sein erstes Gastro-Baby in Pöseldorf auf.

Über dem „Bierdorf“ und unter dem „Bhagwan“ liegt das „Times-Square“. Es ist gerade Ende der 80er, MTV ist noch recht neu in Deutschland, und in Pöseldorf gibt es eine Kneipe, in der auf großen Fernsehern die ganze Zeit MTV läuft. Als er mit Gitarre vor dem Laden sitzt und singt, lernt er Miles Roberts kennen. Mit ihm und Jan-Chris­tof Scheibe geht’s später in einem alten Bus auf eine ausgedehnte Street-Music-Tour. Einzige Regel? „Kein Geld mitnehmen!“ Sie fahren über Zürich nach Norditalien und weiter nach Süden Richtung Côte d’Azur. An der Côte d’Azur war das Straßenmusikerleben wohl etwas schwieriger, denn Instrumente waren in der Öffentlichkeit verboten. Aber sie genießen die Tour, haben nach jedem Auftritt genug für einen Vollgasabend. Sie bleiben hier oder da mal etwas länger, kehren bei Freunden ein, ziehen weiter. „Straßenmusik ist das Ehrlichste, was du als Musiker machen kannst“, sagt Nissim und lacht, während wir nebenbei ein dickes Fotoalbum durchblättern, das in den vergangenen Jahrzehnten das Aroma von zahllosen Zigaretten zwischen Pöseldorf und Grindel aufgesogen hat. Falls jemand nicht mehr weiß, was es heißt, wörtlich körbeweise Fanpost zu beantworten, dann findet er in Nissims Album großartiges Bildmaterial dazu.

Da Straßenmusik also das Ehrlichste ist, ist die Fortsetzung von Nissims Vita irgendwie klar: Fünf Jahre später brechen die oben erwähnten Freunde ein weiteres Mal auf. Diesmal geht’s in den Norden. „Die Dänen sind durchgedreht, wir haben fast nur in First-Class-Restaurants gespielt.“ Über Aarhus geht’s im Bulli kreuz und quer durch Dänemark. Wieder zurück in Hamburg kümmert er sich in den 90ern um sein zweites Gastroprojekt. Im „Sands“ in Pöseldorf gibt es – neben asiatischem Essen – natürlich: regelmäßig Live-Musik! Er lernt Ayman kennen, der dort nicht nur auftritt. Der Song „Bis in alle Zeit“ von Nissim findet tatsächlich seinen Weg auf Aymans Album.

Und heute? Die Liebe zur Live-Performance und zum unmittelbaren Austausch hat Nissim bis jetzt nicht verloren. Und immer noch zieht es ihn an warmen Tagen gern mal an die Alster. Aber am produktivsten ist er inzwischen auf einem Kanal, auf dem man ihn vielleicht nicht unbedingt erwarten würde. Auf TikTok hat er in den letzten Monaten gut 30.000 Follower gewonnen. Dann sitzt er in seinem Café, den Blick auf Kammerspiele und Hartungstraße und singt und singt. „Gestern waren es sechs Stunden!“ Bis er am Abend wieder öffnet. Dann füllt sich sein Café, und es sind eigentlich fast immer auch
Musiker, Schauspieler und andere Künstler da – aus den Kammerspielen, der Elbphilharmonie oder auch aus den Charts, mit denen früher oder später gejammt wird. Bis er am nächsten Morgen wieder ein ganz normaler Vater ist. Mit einer ganz besonderen Stimme.

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