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Große Haie, kleine Fische

PK 15

Text: Till Briegleb | Fotos: René Supper

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 64

Schon am Anfangstresen der Davidwache bietet Katja Schmidt das Du an. Die Polizeihauptkommissarin an Deutschlands berühmtester Wache ist für eine Nacht unsere Führerin in die Unterwelt des Vergnügens. Auf einer Streifenfahrt durch St. Pauli am Tag des letzten Hamburger Derbys zeigt sie uns ihr Reich, und zwar in beeindruckender Herzlichkeit. Angst vor der Uniform, Strammstehen vor der Autorität, damit hat die Ordnungstätigkeit von Hamburgs Polizei heute nicht mehr viel zu tun. Solange ihnen keiner blöd kommt, sind alle Kolleginnen und Kollegen vom PK 15, dem kleinsten Revier Europas, freundlich, sehr nett und hilfsbereit. Und ihre Einsatzleiterin lebt es der größtenteils jungen Frau- und Mannschaft vor.

Dabei haben die es in der historischen Wache von Fritz Schumacher wirklich nicht luxuriös. Platz ist in der kleinsten Hütte, trifft es ganz gut, wie sich das Innenleben in dem Baudenkmal von 1914 anfühlt. Und ordentlich abgeranzt ist das Labyrinth aus engen Fluren und kleinen Zimmern auch noch. Die intensive Nutzung durch rund 150 Menschen im Schichtdienst, dazu diverse Hundertschaften an Tagen wie diesen, wo rivalisierende Fangruppen Kolonnen von Bereitschaftspolizei auf den Kiez ziehen, schabt gehörig an den Oberflächen. Und trotzdem ist an diesem Ort, wo Uniformität eigentlich Pflicht ist, vieles sehr persönlich in seiner Ausstrahlung. Von Lutscher-Ständern auf den Konferenztischen zu Talismanen in den Wertsachenfächern zu den Inhalten des Klönschnacks an der Rauchertreppe zum Hof zeigen viele nette Details, dass Polizeialltag nicht weniger so­zial abläuft als jede andere Gemeinschaftstätigkeit. Katja, die Leiterin der nächtlichen Kiez-Einsätze mit vier silbernen Sternen auf den Schulterklappen, lässt die weniger Besternten nicht den Hauch hierarchischen Benehmens spüren. Mit geschlossenen Augen würde man niemals bemerken, wer hier das Sagen hat, so freundschaftlich ist der Umgangston.

Auch oben in der Einsatzzentrale, wo der überraschend junge Chef der Wache, Polizeioberrat Sebastian Krause, in sehr beengten Verhältnissen zwischen Bildschirmen und Kommunikationstechnik eingehende Anrufe in ausgehende Polizeibewegungen verwandelt, ist Nettigkeit Trumpf. Herzliche Begrüßung, lässige Offenheit. Hier gibt es keine Geheimnistuerei eines Überwachungs­staates. Die Kameras, die rund um die Reeperbahn aufzeichnen, was um die 50.000 Berauschte pro Wochenendnacht so treiben, blenden sogar alle Hausfassaden mit grauen Flächen aus. Recht auf Privatsphäre.

Datenschutz auf der einen Seite trifft hier auf große Transparenz bei allen dienstlichen Aspekten. Nichts wird verheimlicht, von den Funkkanälen der Peter­wagen bis zu den berühmten Zellen im Keller, wo renitente Rauschopfer auf kargen Holzpritschen in die Ausnüchterung gebettet werden und wo auch Paul McCartney schon mal eine Nacht verbrachte, weil er in seinem Hotel gezündelt hatte. Damals war das noch umsonst. Heute bezahlt jeder Eingesackte für die schmucklose Übernachtung in Staatsbetreuung mindestens 210 Euro. Wer Stress macht, wird mehr los.

Die Überraschung über die total unkomplizierte Bekanntmachung mit allen Details der Polizeiarbeit, die wir in zwei Besuchen in der Davidwache erleben, wäre in der langen Geschichte der Dienststelle sicherlich nicht immer gleich freudig ausgefallen. Nach Abzug von Napoleons Armee, die den Hamburger Berg für die freie Schussbahn auf Hamburg komplett abgefackelt hatte, blühte ab 1820 das traditionelle Schaugeschäft wieder auf. 1840 wurde an der Davidstraße der Standort einer Wachmannschaft für das Landgebiet St. Pauli gegründet. Lange hat die Davidwache um ihre Beliebtheit bei den Quartiersbewohnern und -gästen zu kämpfen gehabt.
Denn obwohl Hamburg in seiner westlichen Vorstadt den Sünden stets ziemlich freien Lauf ließ, waren es die Konflikte, die den Ruf der Polizei bestimmten. Und in der langen Geschichte waren die Beamten sicher auch nicht immer die Guten, etwa der autoritäre Schupo der Kaiserzeit oder die Gestapo im Dritten Reich, die von der Wache aus Willkür herrschen ließ. Noch in den Achtzigerjahren galten „die Bullen“ vielen Akteuren des Sankt-Pauli-Mythos vor allem als Gegner, der linken Szene rund um die Hafenstraße wie den sich bekriegenden Luden-Organisationen GMBH und Nutella-Bande.
Doch diese wilden Zeiten, wo „Chinesen-Fritz“ auf einem Barhocker der „Ritze“ in den Kopf geschossen wurde und Barrikaden rund um besetzte Häuser brannten, sind ziemlich passé. Und mit Jan Fedder und seiner familiären Fernsehpolizei im „Großstadtrevier“ wurden die Gesetzeshüter auf St. Pauli sogar zu einem echten Sympathieträger für Hamburg, obwohl das fiktive Polizeikommissariat 14 der Serie gar nicht die Davidwache ist. Trotzdem wollen auch in dieser Nacht Touristen mit den Beamten vor der prägnanten Backsteinfassade fotografiert werden. Die echten Polizisten vom PK 15 haben aber mindestens so lange versucht, ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem Kiez aufzubauen, wie die mittlerweile 500 Folgen der Serie ausgestrahlt werden. Zu Zeiten des legendären Leiters Ludwig Rielandt in den Achtzigern wurde der „Bulle mit Herz und Verstand“ zum inneren Leitbild der Davidwache. Allerdings haben sich die Cops vom Spielbudenplatz heute mit völlig anderen Vergnügungen zu befassen, und das hat auch das Berufsbild stark verändert.

Der Wandel St. Paulis zu einem Vollrausch-Reservat am Wochenende, wo Prostitution nur noch ein Randaspekt ist, verlangt nach anderen Prioritäten. So war Katja in ihrer ganzen Dienstzeit nur ein einziges Mal in der „Ritze“, der legendären Box-Kneipe im Hinterhof, wo sich bis in die Neunziger die kriminelle Kernkompetenz St. Paulis traf. Und das war bei der Abschiedsfeier für einen altgedienten Kollegen.
In der Woche dagegen sind die Reeperbahn und ihre angrenzenden Straßen nach diversen Stadterneuerungen und steigenden Mietpreisen inzwischen eher ein relativ ruhiges Bürgerquartier mit Kneipenbetrieb. Deshalb kommt einem im Verlauf der Tag- wie der Nachtstreife die Arbeit von Katja Schmidt und dem „Bürgernahen Beamten“ Oliver Schlegel auch manchmal weniger vor wie Polizei- als wie eine besondere Form von Sozialarbeit.

„Als Stadtteilpolizisten ist es unser Job, den Leuten den Wind aus den Segeln zu nehmen“, beschreibt Schlegel die Präventionstätigkeit ­einer Fußstreife. Der ehemalige Zivilpolizist, der ein Viertel des Viertels bestreift, hat die Auf­gabe, mit allen zu reden, vom Hausmeister bis zur Obdachlosen. Dazu braucht es eine besondere Mischung von Respekt und Vertrauen, auf beiden Seiten. In seinem Bereich Reeperbahn Nord ist das dem athletischen Hünen mit der Ausstrahlung „hart, aber herzlich“ offensichtlich beeindruckend gelungen. „Unser Held von der Davidwache“, begrüßt ihn ein Hausmeister mit riesigem buntem Schlüsselbund, der für die berüchtigten Osmanis ihre Immobilien auf der heißen Meile betreut. Auf Nachfrage lobt er den Polizeioberkommissar besonders dafür, dass er der Einzige in der Ecke sei, der nachsehe, wie es den Obdachlosen gehe, und sie anstoße, ob sie noch leben.

In Schlegels Kernbereich Hamburger Berg, wo „Elbschlosskeller“ und „Goldener Handschuh“ genauso 24/7-Betrieb haben wie die Davidwache, ist alkoholbegleitete Verelendung allgegenwärtig. Hier lebt etwa Inge seit 37 Jahren unter einem Vordach, über die Oliver Schlegel alles weiß, inklusive, warum jede Unterbringung in Obdachlosen-WGs an ihren Kontrollverlusten gescheitert ist. Hier begrüßen wohnungslose Polen vor dem Penny-­Supermarkt Schlegel, als seien sie seine Hilfspolizei: „Alles in Ordnung hier, Herr Kommissar.“ Und hier unterhält sich die Streife mit dem Personal der „Honka Stube“. Man tauscht sich über Vorkommnisse aus, denn an den ­Aggressiven, die „den Schwanzvergleich mit der Polizei
suchen“, hat keiner Interesse.

Und während wir noch vor der Tür stehen und über den Wandel dieser Kneipenstraße seit den Achtzigerjahren sprechen, über Gentrifizierung, arme Schlucker, die an der Hafen­straße Drogen verkaufen, und das fatale Clubsterben, kommt ein netter Mann aus dem legendären Lokal, der auf Platte lebt und gerade auf ein Getränk in den „Handschuh“ ein­geladen wurde. Alexander Sebastian, Obdach­loser auf St. Pauli, stellt er sich vor und unterhält sich wie selbstverständlich mit dem Polizisten und seinen Begleitern über die zwei Flaschen Wodka, die er pro Tag braucht, und warum er aus seelischen Gründen nicht arbeiten kann, sondern auf der Hafentreppe bettelt.

Was kann besser die neue Rolle von „Ordnungshütern“ in St. Pauli zeigen?
Als Partner sei er „für das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen hier wichtig“, sagt Schlegel. „Die Leute fühlen sich besser so.“ Und deswegen wird auch nicht jede Ordnungswidrigkeit verfolgt, die der BFS, der besondere Fußstreifendienst, beim Dienstflanieren bemerkt. „Mit Angst und Kontrolldruck löst
du keine Probleme“, sagt Schlegel, „du verschiebst sie nur anderswohin.“ Und das sei etwas, das gerade junge Kollegen, die am Wochenende als Zusatzkräfte eingesetzt würden, erst lernen müssten. Die träten zu leicht bedrohlich auf, zögen sich Handschuhe an, wo Beruhigen besser täte. Auch Katja Schmidt ist überzeugt von der Weisheit der Deeskalation.

„Polizei ist ein Erfahrungsberuf, der braucht viel Empathie“, sagt sie, und formuliert dann pointiert das Motto ihres Vorgehens: „Unsere Waffe ist das Wort!“ Zwar sagt Schlegel auch, dass er sich bei den vielen Sorgen auf seinem Kiez manchmal wie der „emotionale Mülleimer“ der Leute vorkomme. Aber auch: „Ich bin aus Überzeugung hier.“ Seine Vorgänger als „Kontaktbereichsbeamte“, wie das früher hieß, waren teils Jahrzehnte auf St. Pauli. Die Jungen dagegen haben meist nach rund drei Jahren genug vom hek­tischen Kiez-Dienst.

Die Nachtarbeit ist allerdings auch von ­einem anderen Schnack. Die „Sozialarbeit“, die Katja Schmidt und ihr Kollege, Polizeikommissar Alexander Herber (vorgestellt als Alex), zwischen 20.30 Uhr und fünf Uhr früh erledigen, besteht vor allem darin, Leute vor sich selbst zu schützen. Speziell am Wochenende heißt es „Schwerpunkteinsatz Gewalt“. Denn im Hamburger Straftatenatlas hat St. Pauli die Kennnummer 1 und mit 2878 Körperverletzungen 2023 den absolut höchsten Wert in der Stadt. Wenn dann auch noch jubelnde auf frustrierte Fußballfans stoßen, wie am Derby-Freitag, dann braucht es das ganze „Kräftegedeck“, ­wie die ehemalige Wasserwerfer-Kommandantin, die erste weibliche in Hamburg, das Riesen­aufgebot von Bereitschaftspolizei in dieser Nacht nennt.

Während ein Zug stark Gepanzerter auch die Davidwache schützt, beginnen wir unsere Expedition nach Trinkhausen im Dienst-­Mercedes. Gerade erst losgefahren, liegt schon ein Mann neben seinem Rollstuhl bei der ­Taxi-Gasse an der Talstraße. Kein wartender Fahrer kümmert sich um den Elenden. Zu vertraut ist das Bild von Alkoholleichen im Dreck. Dabei hat der Gefallene schwere Schmerzen in der Brust und wird vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht, wo er auf der Intensiv­station landet. Die Einsatzleiterin der Nachtschicht sammelt eigenhändig seine ­verstreuten Habseligkeiten ein, sogar eine Plastikbierflasche, denn „der Pfand ist ja sein Eigentum“, und schiebt den Rollstuhl Marke „Breezy“ zurück zur Davidwache, wo der schmuddelige Hausstand protokolliert und später mit einem Sprinter ins Spital hinterhergeschickt wird.
Während die Hundertschaften der Bereitschaftspolizei aus Alsterdorf weiter dafür sorgen, dass HSV- und Sankt-Pauli-Fans nach dem letzten Aufeinandertreffen in derselben Liga die stillschweigende Feiergrenze nicht überschreiten (HSV säuft und grölt südlich der Reeperbahn, St. Pauli nördlich davon), folgen die fünf Streifenwagenbesatzungen vom PK 15 den Ansagen der Einsatzzentrale. Und dabei geht es in der Regel um gewalttätige Auseinandersetzungen und aggressives Verhalten.

Bei einem Streit in Planten un Blomen etwa wird von einer Anruferin ein Messer gemeldet. Alex schaltet das Blaulicht an und fährt in einer bewundernswürdigen Rasanz auf der Gegenfahrbahn und verkehrt herum durch Einbahnstraßen zum Tatort, was sich auf dem Rücksitz anfühlt wie in einem Fahrgeschäft auf dem Dom. Im Park steht dann ein blutiger Junge in Socken zusammen mit seiner Freundin, die behauptet, er sei betrunken ins seichte Wasserbecken gesprungen. Auch die anderen Anwesenden wollen von einem Streit mit Messer nichts gesehen haben.

Wieder kommt der Rettungsdienst, der Dauerbegleiter dieser Nacht, der im Akkord die Opfer von Fäusten, Alkohol und Luftarmut auf die Bahren hebt und auf schnellstem Weg ins Krankenhaus befördert.
Hauptsächlich wird in dieser Nacht Streit geschlichtet, Leute nach Hause geschickt, bevor sie Dummheiten begehen, und Touristen freundlich die Glasflasche abgeschnackt. Auf der Großen Freiheit, der vollkommen überlaufenen Erlebnismeile mit Ballermann-Dröhnung, umarmt Katja Schmidt einen bekannten Pfandflaschensammler und stellt uns Michele vor, den Türsteher der „Thai-Oase“, der auf seinem Trottoir für Ruhe sorgt. „Wir helfen uns gegenseitig“, bestätigt er, was Katja über den familiären Umgang mit den Gastro-Betreibern und ihrer Zutrittskontrolle erzählt. „Manche müssen wir aber noch weiter erziehen“, ergänzt die Einsatzleiterin, „vor allem, was Minderjährige betrifft.“ Um drei Uhr nachts wird dann noch ein Mann mit gezogener Waffe auf der Freiheit ­gemeldet, der aber nicht ausfindig gemacht werden kann. Doch das meiste, was in dieser Nacht über den Funk kommt, löst sich eher harmlos auf. Durch Alkohol oder Drogen aufmüpfig geworden Gäste, die ein Lokal nicht verlassen wollen, ein Streit zwischen Männern über eine Frau vor dem „Sommersalon“. Oder eine Einbruchsmeldung, die dann folgendermaßen zurückgepfiffen wird: „Könnten auch die Brotlieferanten sein.“

Ab und zu benutzt Katja Schmidt das „Pöbel­phon“, wie sie es selbst scherzhaft nennt, um über den Dachlautsprecher Pärchen zu erklären, dass E-Roller nicht für zwei Menschen zugelassen sind oder was „Glasflaschenverbot“ heißt. Auch sind sich Polizistinnen nicht zu schade, Fotos für Feiernde zu schießen, um für gute Stimmung auf dem Kiez zu sorgen. Nur auf einen „VU“ am Millerntor haben ­Katja und Alex keinen Bock und versuchen, sich stumm zu stellen. Denn bei der Aufnahme von Verkehrsunfällen „machen wir bloß den Hiwi-Job für Versicherungen“. Als wir am Ende des ­Reviers ankommen, ist aber von Blechschäden weit und breit schon nichts mehr zu sehen. Die gesunde Mischung aus Charme und resolutem Auftreten, mit dem die Nachtschichtler in ihren schwarzen Colani-Uniformen den Brauseköpfen den Wind aus den Segeln nehmen, führt in diesen Stunden dazu, dass niemand „zu Boden gesprochen“ werden muss, wie die Festnahme durch Hinlegen im Streifenjargon heißt. Zahlreiche Tempovorstöße mit Martinshorn führen also letztlich zu keiner ernsthaften Konfrontation.

Am Ende der Nacht können wir Katja und Alex nur das Kompliment machen, dass dieser heiße Ritt ein rundum großer Spaß gewesen ist, auch wenn man sich beim Drängeln durch die Feier­biester wirklich gefragt hat, was deren Spaß ­an diesem Massenbesäufnis eigentlich ist. Aber für Katja Schmidt gehört das Recht auf Rausch zu dem Kiez, den sie längst selbst liebt. Und auf dem sie und ihr „Kräftegedeck“ vollen
Einsatz fahren, „damit der Stadtteil für alle ­attraktiv bleibt“.

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