Für den Vollbildmodus bitte auf ein Bild klicken

Die Ritter für die Tafelrunde
HAMBURGER TAFEL
Im November vor 30 Jahren gründete Annemarie Dose die Hamburger Tafel als damals dritte Tafel in Deutschland. Heute sind es 970 Tafeln, die Lebensmittel vor der Vernichtung retten und sie an Bedürftige verteilen. Jan Henrik Hellwege führt den Verein im 21. Jahrhundert wie ein mittelständisches Logistikunternehmen.
Text: Simone Rickert | Fotos: Julia Schwendner
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 65
Morgens um sieben auf dem Betriebshof in Tonndorf. Jan Henrik Hellwege hat Kaffee, auch Tee, für die Fahrer gemacht, die in 15 Minuten aufbrechen, um in Zweierteams auf 14 Sprintern und einem Lkw die Supermärkte Hamburgs nördlich der Elbe anzusteuern, Lebensmittel einsammeln, die sonst entsorgt werden würden. Auf dem Annemarie Dose Platz, der gemütlichen Ecke zwischen funktionalem Büroflachdach und Hochregal-Lagerhalle 1 von zweien ist die Welt soweit in Ordnung. Noch ein Plausch unter Kollegen, Blick auf die Touren-Pläne – man kann echt sagen: Vorfreude schwingt mit. Darauf, dass die Versorgung mit 90 Tonnen Lebensmitteln an 40.000 Bedürftige wöchentlich in Hamburg mal wieder gesichert wird – übrigens ungefähr gleich mit der schwieriger zu schätzenden Anzahl der Millionäre der Stadt.
Die Zahl der „Kunden“ ist seit Gründung der Tafel kontinuierlich gestiegen. Da mitzuhalten ist gelungene oberste Prio, die Umstände aber nicht unbedingt als Erfolgsgeschichte zu verbuchen. Geschäftsführer Jan Henrik hat mit dem Vorstand 13 Jahre Erfahrung darin, selbst vorher schon Fahrdienstleiter, weiß er, worauf es ankommt. „Drei Säulen: Wir brauchen die Lebensmittel. Wir brauchen die Leute, die ehrenamtlich für uns arbeiten. Wir brauchen die Kohle aus Spenden, die den Betrieb finanzieren. Und eine ist immer mal schwierig, nie so, dass alle drei toll sind.“
Zusätzlich muss man wissen: Die Tafel hat genau sechs fest angestellte Mitarbeiter, dazu 200 ehrenamtliche. Spendengelder gehen direkt in den Betrieb: Autos und deren laufende Kosten, Miete der Fläche, Versicherungen. Keinerlei, null, staatliche Unterstützung. Ruht sich der Staat zu sehr aus auf dem Ehrenamt? „Vielleicht in anderen Bereichen. Ich mag’s eigenorganisiert, hab’ auch ein ganz anderes Menschenbild: Ich glaube nämlich wirklich, dass jeder so geboren wird, dass er jemandem helfen will. Das ist ein tiefes Grundbedürfnis. Ich sehe, wie viel Motivation und Zufriedenheit unsere Mitarbeiter und auch die Spender daraus ziehen. Das kann man mit der Politik nicht steuern.“
Wir springen mit auf den Sprinter bei Gerd Schöneberg und Michael Völkel, die fahren heute die Tour Ost. Gerd ist der alte Hase im Tandem, Michael ist gerade erst in Frührente bei der Telekom gegangen, „Engagierter Ruhestand“ für 1000 Sozialstunden in drei Jahren. Für die Tafel ein super Modell. Gerd und Michael waren bereits früher Kollegen, auf der Fahrt an 16 Märkte gibt es also genug zu quatschen. Supermärkte backstage, einige hui, andere echt pfui. Wer eine Staffel „Die Discounter“ geguckt hat, ist gut im Bilde und Fachjargon. An erster Station bei Lidl hat der freundliche Filialleiter alles schon abholbereit an die Laderampe gestellt, nur die „Mopro“, Molkereiprodukte, holt er noch schnell aus der Kühle, während zwei Kisten Radieschen umgepackt und begutachtet werden. Wir dürfen naschen: knackig. Die frische Ware wird noch am selben Nachmittag an die Ausgabestellen verteilt.
Es ist eine Besonderheit der Hamburger Tafel, dass die Ware nicht direkt an Bedürftige weitergegeben wird, sondern an derzeit 31 große Ausgabestellen, wo „die Kunden kostenlos einkaufen gehen können“, sowie an 65 kleinere Hilfseinrichtungen, die daraus auch fertige Mahlzeiten zubereiten, wie Suppenküchen, Obdachlosenheime und Frauenhäuser. Was die Tafel ausgibt, ist unbedenklich verzehrbar, und dafür steht Jan Henrik als Geschäftsführer auch juristisch gerade. Diese Vorgabe legt leider nicht jeder Markt so fein aus. Mit Handschuhen zu arbeiten, war daher das Erste, was Michael gelernt hat. Jede faulige Zitrone kann explodieren, jeder Brokkoli wird begutachtet, was nicht geht, fliegt noch vor Ort in die Gammelkiste – die ist bedauerlicherweise manchmal größer als die Ausbeute.
Next stop, eine „Nullnummer“, wie Gerd das nennt. Schulterzucken am Wareneingang, leider gar nichts. „Das ist“, sagt Jan Henrik später, „die aktuell größte Gefahr. Ich mag kein Drama, aber die Menge frischer Lebensmittel, die wir aus den Supermärkten bekommen, nimmt ab, weil die wesentlich effizienter
planen, einschließlich künstlicher Intelligenz.“
So können die Märkte das Volumen des Abverkaufs optimal kalkulieren, und es entstehen dadurch viel weniger Überschüsse. „Gesamtgesellschaftlich gesehen ist das natürlich eine richtig gute Entwicklung, weil wir unsere Ressourcen schonen, weniger verschwenden – nur für unser Projekt ist das total scheiße.“ Außerdem ist bei steigenden Lebensmittelpreisen der Kampf um die Reste größer. Direkt im Markt gibt es Reduzierungen, auf die auch reguläre Kunden eingehen, auf Online-Plattformen wird wild gehandelt. „Aber wir sind die Einzigen, die den zweiten Schritt gehen und sagen: Wir verteilen es weiter – das unterscheidet uns. Und damit versuche ich, Firmen und Spender für die Arbeit mit uns zu gewinnen.“
Sein Text, wenn er für die Tafel wirbt: „Guckt mal, ihr verdient unglaublich viel Geld in Hamburg. Und mit uns habt ihr die Möglichkeit, auch für Hamburg etwas zu tun.“ Weil wir ja alle so stolze Hamburger sind. Und ehrlich jedem, der in der Food-Branche arbeitet, das Herz dabei blutet, Essbares zu vernichten. Trotz tollen Bestellmanagements in den Märkten landet eine große Menge in Bio-Recycling-Bottichen, welkes Frischzeug, verpackt Abgelaufenes, alles nur noch brauchbar in Biogasanlagen zur thermischen Erzeugung von Strom und Wärme, Dünger für die Landwirtschaft. Das ist gut, aber nicht gut für die Tafel. Bei unserer Tour sehen wir das in einem schicken großen Markt, zwei Laderampen: Links parken wir und sortieren – wieder – Radieschen. Rechts lädt der Entsorger auf, Gerd schätzt, einen Hektoliter.
Im nächsten Markt ist der „Beamtenaufzug“, aka der Lastenfahrstuhl, kaputt. Also wir im Geschwindschritt durch ein halbes Einkaufszentrum, schon am Vordereingang des Supermarkts signalisiert Michael mit zwei Fingern: wieder null. Doch Moment, hier gibt’s ja hinter der Kasse das Körbchen, in das Kunden gekaufte Waren direkt der Tafel spenden können. Nur vier Packungen Spaghetti fischt Gerd raus, trotzdem glückliches Lächeln, denn jede Spende zählt. Überhaupt ist es das Glücksgefühl, etwas Gutes und Sinnstiftendes zu tun, was die 200 Ehrenamtlichen mehr motiviert als jede Sozialstunde. Liegt sicher auch an der guten Laune, die Jan Henrik verbreitet. Er kennt selbstverständlich jeden mit Namen, weiß, wer grade Enkelgeburtstag gefeiert hat, und seine herzlichen Umgangsformen setzten sich unter den Mitarbeitern fort bis zu den Ansprechpartnern in den Märkten, die sie abklappern. „Freundlich, pünktlich,
alles sauber hinterlassen – schließlich holen wir hier Geschenke ab“, so sagt es Gerd. Um neun Uhr sieht es hinten im Sprinter noch ziemlich mau aus. Aber es gibt Hoffnung: Das Logistikzentrum von „Rewe online“ liegt am Ende der Tour. Hier denken sie wie bei der Tafel, in Hallen, Hochregalen und Paletten. In der Tat beeindruckend. Wir können an Rampe 11 (!) den Sprinter immerhin auf ein Drittel vollmachen. Zwei Rollis, das sind diese mannshohen Leiterwagen, holen wir raus: unbeliebte Puddingsorten, andere Mopros, auch Wasch- und Geschirrspülmittel. Dennoch nicht viel.
Immer wichtiger werden Spenden direkt von Herstellern und Spediteuren. Lagerleiter Patrik Jatsch zeigt den aktuellen Bestand an Marmelade: konnte er dank Fläche und digitalem Warenwirtschaftssystem annehmen. Alles tipptopp und noch mindestens über drei Monate haltbar, nur falsch oder saisonal mit Winterzauber etikettiert und in Teilen mit einem auf 250 Gramm zu wenig maschinell abgefüllt. Darf alles nicht in den Handel. „Vier Sattelschlepper Marmelade, 120 Paletten, à 430 bis 500 Kilo. Da muss man schnell reagieren.“
Auch dies eine Spezialität der Hamburger Tafel: Tempo annehmen, Kapazitäten bereitstellen, Kontakte haben, ein befreundetes Speditionsunternehmen holt gratis ab, die Koordination der Umverteilung solch riesiger Mengen auf Hamburger Partnertafeln südlich der Elbe und umliegende Bundesländer. Dieses große und das alltägliche Management liegt in den Händen von Carina Frischke und Lukas Gaar, Fahrdienstleitung. Die professionellen Entsorger sind in einem solchen Fall nur zwei Mausklicks entfernt, kosten den Hersteller aber mal locker 100 Euro mit Verpackungstrennung pro Palette. Dagegen erhält er hier eine Spendenbescheinigung.
Und rund 120.000 Frühstücker sind versorgt. Um 13 Uhr tafeln alle Mitarbeiter zusammen. Heute serviert der Koch des Tages Nudeln mit Tomatensoße. Die Schicht vom Vormittag geht gestärkt nach Hause, die Fahrer für die Auslieferung sitzen schon mit am Tisch. Sie fahren auf drei Sprintern und verteilen die kommissionierten Lieferungen an die Ausgabestellen des Tages. Eine Tour übernehmen die erfahrenen Ehrenamtlichen Birger Warncke und Claus Herda, beide seit zwanzig Jahren in diesem Job. Wir fotografieren auf ihrer Runde nicht, denn an den großen Ausgabestellen, wie beispielsweise der Kirchengemeinde St. Georg, stehen die „Kunden“, wie sie respektvoll genannt werden, schon Schlange bis auf die Straße, bevor der Sprinter überhaupt da ist. Junge Leute mit Kindern an der Hand, alte Damen mit Hackenporsche, Geringverdienende. Ihre Bedürftigkeit wird inzwischen geprüft, sie weisen sie nach per Bürgergeldbescheid oder Alterssicherung.
Jan Henrik hat ausgerechnet, dass jede prallvolle Tüte im Wert von 20 bis 30 Euro die Tafel 50 Cent Spendengeld kostet, die Arbeitskraft der Ehrenamtlichen und die tatsächlichen Sachspenden natürlich nicht eingerechnet. Im Umkehrschluss also: Mit einer Fördermitgliedschaft über 15 Euro pro Monat spendiert man einer bedürftigen Familie jeden Abend ein gutes Essen.