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Heaven can wait
CHORLEITER JAN-CHRISTOF SCHEIBE
Der Tod mag backstage sitzen, aber sie sind vorn, auf der Bühne. Der Chor Heaven can wait feiert das Leben im Hier und Jetzt. Diese Gang ist im Herzen so jung wie die Songs, die sie singt
Text: Regine Marxen | Fotos: Julia Schwendner
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 63
„Singen kannst du lernen. Aber du kannst nicht lernen, Geschichten zu erzählen“, sagt Scheibe. „Wenn du langweilig bist, bleibst du langweilig.“ Scheibe heißt eigentlich Jan-Christof Scheibe, aber kaum jemand nennt ihn beim Vornamen. Der Entertainer und Musiker ist Leiter und Erfinder des Chors Heaven can wait, und bei dem geht es nicht nur um die richtige Tonlage. Wer hier mitsingt, muss mindestens 70 Jahre alt sein und darf keine Scheu vor moderner Popmusik haben. Auf der Playlist stehen Songs wie Frida Golds „Wovon sollen wir träumen“, Jan Delays „Oh Jonny“ und „Da Da Da“ von Trio. Der Kontext verändert die Musik, gibt ihr eine neue Bedeutungsebene. Deichkinds Hip-Hop-Megahit „Leider Geil“ aus dem Mund eines Ü-70ers ist, pardon, genau das: leider geil. Trotz mancher rhythmischen Schieflage.
Die rund 35 singenden Senioren sind Kult in Hamburg und darüber hinaus. Es gibt sogar einen Dokumentarfilm über sie. Sven Halfar hat ihn gedreht. „Heaven can wait. Wir leben jetzt“ startete im Oktober 2023 in den Kinos und ist inzwischen als Stream erhältlich. Die Doku ist eine emotionale Achterbahnfahrt wie das gesamte Chorprogramm.Melancholie, Trauer, Freude. So ist das Leben –und „Heaven can wait“ erzählt eine Menge darüber.
Vor zehn Jahren hatte Scheibe gemeinsam mit dem damaligen Intendanten des St. Pauli Theaters, Thomas Collien, die Idee, den Chor zu gründen. Sie wollten die Stärken des Alters sichtbar, die Lebenserfahrung spürbar machen. Die Idee kam an, zehn turbulente Jahre sollten folgen. Auf den einen oder die andere konnte der Himmel dann doch nicht warten. Andere Mitglieder verließen den Chor, weil sie zum Beispiel lieber reisen wollten. „Leute kommen, manche gehen“, bringt es Joanne Bell auf den Punkt. Sie ist von Beginn an dabei und als ausgebildete Opernsängerin der einzige Profi in der Mannschaft. Heute, über ein Jahrzehnt später, sitzt sie hinter der Bühne des St. Pauli Theaters in der Garderobe. Es liegt Aufregung in der Luft, gleich ist Probe für den Auftritt heute Abend. „Still Alive, Best of 10 Jahre & neue Songs“ lautet der Titel des Programms. Joannes kurze Haare schimmern golden, an ihren Fingern und in den Ohren trägt sie Statement-Schmuck. Groß und goldfarben. Die Frau ist eine Diva, die Bühne, sagt sie, ist ihr Zuhause. „Weißt du, ich bin 84 Jahre alt, und die Leute wollen mich immer noch haben. Die Stimme ist immer noch da. Das ist eine Chance.“
Das älteste Chormitglied ist 94 Jahre alt. Wer es ist, wird nicht verraten. Matthias Seifert ist mit seinen 71 Jahren der Youngster im Team. Er wird heute ein Minisolo in einem Medley singen. Ein bisschen aufgeregt ist er. „Aber dann denke ich mir: Einfach machen. Dann wird das schon gut.“ Matthias ist nicht der Einzige, den das Lampenfieber gepackt hat. Es liegt etwas in der Luft, der Chor ist bereit für das nächste Level. „Wir müssen künstlerischer werden“, sagt Scheibe. „Für uns ist das alles gerade der nächste Schritt“, bestätigt Antje Schlaich. Seit zwei Jahren kümmert sie sich um das Event-Management, um die Website, Social Media, Tourbegleitung und Inspizienz. Kurz: Sie sorgt dafür, dass es hinter den Kulissen läuft. Gerade hat sie einen Rollator von der Bühne getragen, damit die Proben für den heutigen Abend beginnen können.
Es ist eben ein Job mit besonderen Anforderungen, und die Popstars, die sie betreut, haben alle ihren
eigenen Kopf. Das gilt auch für den Chorleiter. „Manchmal habe ich das Gefühl, ich verbringe die Hälfte meiner Arbeitszeit vor Ort damit, diesen mausgrauen Typen zu suchen“, lacht sie. Als Dirigent trägt Scheibe immer ein graues Hemd zur grauen Hose – und kommt auf die Minute pünktlich zur Probe. Auch heute. Steht der 60-Jährige auf der Bühne, hat er den Laden im Griff. Verbale Knüffe inklusive. „Nimm doch ein Mikrofon, wäre doch schön“, sagt er grinsend zu seinem Solisten Wolf von Matzenau, als der ohne an den Bühnenrand tritt. „Habe ich meine Einsätze getroffen?“, fragt ihn Tamara Böhning hoffnungsvoll, nachdem sie ihren Song „Ne Leiche“ von der Punkband SDP geprobt hat. „Nein“, antwortet er schulterzuckend. Klarheit vor Harmonie, serviert mit einem Augenzwinkern.
„Eines der großen Geheimnisse, warum ich diesen Chor so liebe und der Chor, glaube ich, mich auch, liegt darin, dass ich die Leute so behandle, wie ich jeden anderen auch behandeln würde“, vermutet Scheibe. Das bedeutet eben auch, dass künstlerische Entscheidungen von ihm allein getroffen und von allen mitgetragen werden müssen. Er wählt die Songs und die Solisten aus – und wenn Volker Busenbender heute Abend mitten in seinem Solo kurz auf der Bühne verloren geht, greift Scheibe zum Mikrofon und übernimmt seinen Part. Als Chorleiter ist er Mastermind und Back-up zugleich. „Wir haben einen Chef, der uns immer hilft, der immer da ist. Das gibt einem ein Stück Sicherheit“, sagt Tamara. Scheibe ist also Chef im Ring. Nicht mal seine Mutter Evamarie würde das anzweifeln. Auch sie singt seit der ersten Stunde im Chor mit. „Ich sehe, er ist der Fachmann, und außerdem ist er mit viel Gefühl dabei“, sagt sie leise. Sie ist ein wenig müde, die letzten Tage waren anstrengend. Auftritte in Hannover, Flensburg, Brunsbüttel, Buchholz, zweimal in Hamburg. „Das ist alles ein bisschen viel auf einmal. Ich bin 88 Jahre alt – und manchmal habe ich das Gefühl, ich pfeife aus dem letzten Loch.“ Eine Stunde später sitzt sie auf der Bühne des St. Pauli Theaters und rappt zu „Zusammen“ von den Fantastischen Vier.
„In meinem Älterwerden hat mich die Arbeit mit Heaven can wait entspannt“, sagt ihr Sohn. „Ich erlebe, wie die Menschen mutig älter werden. Sich auf Neues einlassen. Ich habe davor einen großen Respekt.“
Am Ende des Abends steht, wer aufstehen kann. Applaudierend und johlend über alle Generationen hinweg. Von den Babyboomern bis zur Gen Z. Es wäre leicht, sagt Scheibe, mit einem Projekt wie diesem auf die Tränendrüse zu drücken. Billig ergaunerte Emotionen. Nein, er mag es herausfordernder, und die Leute auf der Bühne sind alles andere als tieftraurig. Das Leben fordert Schweiß und Tränen, und der Tod läuft bei uns allen immer mit. Aber hier und heute kann der Himmel warten. Denn wir leben jetzt.