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On the Rugs

ANNA JÜRS

Text: Regine Marxen |
Fotos: Uta Gleiser

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 55

Schon ihr Vater war alteingesessener Teppichhändler, sein Kontor hatte er in der Speicherstadt, dem größten Orientteppichlager der Welt. Bis Anna Wahdat selbst auf den Teppich kam, sollte einige Zeit vergehen. Heute hat sie ihr eigenes kleines Teppichuniversum geschaffen – in der Speicherstadt im Pick­huben im Boden 4, in einem der für dieses Areal typischen Lagerhäuser. Es liegt unweit des ehemaligen Geschäfts ihres Vaters, „Moin. Hello. Salam!“ steht auf dem Schild, das am Rahmen der Eingangstür lehnt, darunter der Name dieses Ortes: On The Rugs. Ins Deutsche übersetzt heißt das „Auf den Teppichen“. Willkommen an einem Ort, an dem Teppiche Geschichten erzählen und gleichzeitig
Nährboden für neue Erzählungen sind.

Der Teppich ist in Anna Wahdats Leben fest verankert, der war immer da. Ihr Vater ist Afghane, in der afghanischen Kultur ist der Teppich Treffpunkt für die Familie, und so ist auch sie auf und mit Teppichen aufgewachsen. Auf ihnen wurde gegessen, sie hat auf ihnen ihre Hausaufgaben gemacht oder ist auf den hohen Teppichbergen im elterlichen Geschäft herumgeturnt. Als junge Frau zog es sie in die Popkultur und nach Berlin, sie wurde Journalistin, begann später, in einem Möbel- und Designladen zu arbeiten und darüber hinaus Veranstaltungen zu organisieren. Ihre Wohnung wäre damals teppichfreie Zone gewesen. „Ich musste mich abgrenzen.“

Mit Ende 20 kehrte sie zurück in ihre Heimatstadt, der Teppich begann damals, sich langsam einzuschleichen in ihre Gedanken. „Ich merkte, dass ich genügend Abstand zu der Thematik gefunden hatte.“ Ihr gefiel die Idee, das Thema Veranstaltungen und Begegnungen unter das Oberthema Teppich zu stellen. 2015 wurde aus der Idee Wirklichkeit: On The Rugs war geboren, ein Teppichfachgeschäft, in dem der Bodenbelag als Treffpunkt fungiert, auf dem Events wie Lesungen, Konzerte, Yoga oder Produktvorstellungen in Zusammenarbeit mit Pop-up-Stores stattfinden. Der Teppich bildet den Rahmen, er ist das Kunstwerk, das man mit Füßen treten und bei Gefallen mit nach Hause nehmen darf.
Eines dieser Kunstwerke ist der farbenfroh ­gemusterte Kelim, der im hinteren Teil des Showrooms liegt. Ein Kelim wird gewebt und nicht geknüpft, dieses gute Stück ist fast 100 Jahre alt. „Und er ist trotzdem schon pink“, sagt Anna Wahdat. Ein erfahrener Teppichknüpfer hat ihn restauriert. Dennoch hat die Zeit Spuren hinterlassen, an einigen Stellen ist das Muster leicht verblasst. „Das verleiht ihm seinen Charme.“ Was er wohl alles erlebt hat? Wer hat auf ihm gesessen, gespielt, Freunde begrüßt, geknutscht? Könnten sie sprechen, was würden er und seine Kumpanen wohl alles ausplaudern? Rund 300 Objekte sind in kleinen Stapeln im Raum verteilt, hängen an der Wand oder liegen einzeln am Boden. Neue und Vintage-Stücke, Kinder- und Orientteppiche, schlichte und bunte Exemplare. Allesamt ­Einzelstücke und handgefertigt. Sie kommen aus Afghanistan, Marokko, der Türkei oder dem Iran.

Ihr Vater, sagt Anna Wahdat, hätte um die 10.000 Teppiche in seinem Lager gehabt. „Das wollte ich ganz bewusst nicht. Ich möchte nicht, dass man hier erschlagen wird, wenn man hereinkommt.“ Statt Bergen von Bodenbelägen erwartet die Gäste im Pickhuben also ein heller Raum mit Themenwelten, Blumen und einem gläsernen Gewächshaus, in dem sich das Büro befindet. On The Rugs wird nicht nur von einer Frau geführt, auch das Team ­dahinter ist weiblich. In der männlich dominierten Welt der Teppichhändler sind sie Exoten. „Ohne meinen Vater hätte ich den Einstieg in diese Welt nicht geschafft“, ist sich die zweifache Mutter sicher. Viele ihrer Teppiche findet sie bei den Händlern in der Nachbarschaft. Um die 57 davon gibt es, eine Schatztruhe. Aussehen aber ist nicht alles, auch die Themen Nachhaltigkeit und Produktionsbedingungen liegen Anna Wahdat am Herzen. Deshalb arbeitet sie unter anderem mit einer Kooperative in Marokko, die hauptsächlich von Frauen betrieben wird. In diesem Jahr will sie endlich wieder reisen, Manufakturen besuchen, Teppiche entdecken, Kontakte knüpfen. Veranstaltungen planen, die Leute auf den Teppich holen. Dorthin, wo das Leben sich trifft.

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