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Ellmenreich

SCHIEFER & CO

Text: Peter Wenig | Fotos: Giovanni Mafrici

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 59

Der Gasbrenner taucht den Schmelztiegel in purpurnes Licht, die Flamme erhitzt den Zahn mit Gold auf ungefähr 1000 Grad. Noch ein prüfender Blick auf die kleine goldene Perle, dann streift Reinhard Bochem Lärmschutzkopfhörer und Sicherheitsbrille ab. Ende der Demonstration. „Schon als Kind habe ich unter väterlicher Aufsicht Goldzähne einschmelzen dürfen“, sagt er. Seit 2007 führt der 58-Jährige die Edelmetall-Grobschmiede Schiefer & Co. in dritter Generation, ein paar Steinwürfe vom Hauptbahnhof entfernt, in der Ellmenreichstraße. Das Ellmenreich, wie Bochem es nennt. Zum Gespräch sitzen wir im Klavierzimmer.

Wer ihn mit Holzfäller-Bart, Schal und Cord-Sakko sieht, würde ihn eher für einen Werber oder Filmemacher halten als für den Verantwortlichen eines nunmehr 100 Jahre alten Traditionsgeschäfts, gegründet am 28. April 1923. Und dieser Eindruck wäre so falsch nicht. Denn bevor Bochem ins Familiengeschäft einstieg, hat er die Alster besegelt, in der Südsee gegen Atomtests demonstriert, Müllmännchen auf der Chinesischen Mauer gegrüßt, den Yang Sun in „Der gute Mensch von Szechuan“ gespielt und niemals ein Blatt vor den Mund genommen. Ein Leben, so bunt und vielfältig wie das edle Gut, das die Kundinnen und Kunden Tag für Tag im Ellmenreich abliefern. Zahngold, Kerzenständer, Armleuchter, Uhren, Broschen, Ketten.

Einen Karriereplan, sagt Bochem, gab es nicht. Fast immer führte der Zufall Regie. Als er nach dem Wehrdienst als Au-pair in Paris ins Leben startet, radelt neben ihm im Fitness-Studio ein Verkäufer von Ralph Lauren. Ein paar Tage später verdingt er sich als Assistent des Schaufenster-Dekorateurs. Bochem zieht Puppen aus und an, arrangiert Blumen-Arrangements, drapiert Häkeldeckchen in den Schaufenstern, obwohl er nie eine entsprechende Ausbildung absolviert hat. Mit Genießen hat die Zeit in Paris nicht viel zu tun. Bis nachts um vier Uhr pflegt er das Innere der Boutique, fährt dann zur Au-pair-Familie in einen Pariser Vorort, um vor der Schule die Kinder zu betreuen. Bis mittags Schulbank in der Sprachschule, danach wieder zur Boutique am Place de la Madeleine: „Geschlafen habe ich in Vorortzügen und Taxis.“

Nach fast drei Jahren landet er beim Werbefilm in Wedel. Die Jobs führen ihn in die Provence, nach Marokko, nach London. Für einen Spot der Deutschen Post organisiert Bochem binnen drei Tagen mehrere Seecontainer und lässt sie in Post-Gelb lackieren und beschriften. Ein spannender Auftrag für sein neu gegründetes Start-up CustomMates, einer Problemlöser-Agentur für jedermann. Den schrägsten Auftrag erteilt ihm VW: Am Abend vor einem Skilanglauf-Spektakel in der Autostadt Wolfsburg mit Tausenden Teilnehmern streikt der große Zeitmesser. Sein Team klingelt nachts einen Hersteller dieser Uhren im Schwarzwald aus dem Bett, überredet einen Taxifahrer zur Nachttour in den Norden. Die Mission gelingt: Am nächsten Morgen um sieben Uhr ist der neue Zeitmesser am Start. „Aber die Zeit für eine solche Agentur war noch nicht reif“, sagt Bochem. Aus CustomMates wird eine Produktionsfirma für eine TV-Datingshow.

Zu einer Zeit, als sich noch kein Sender für das Thema Dating interessiert, lässt Bochem auf einer 54 Meter langen Jacht an der griechischen Küste zwölf Mädels zwölf Jungs einladen: „Das Ding haben wir frech mit kleinem Geld in Österreich auf Sendung gebracht. Auf dem Frauensender TM1, dem Vorläufer von ServusTV.“

Als ihn dann sein hochbetagter Vater um den Einstieg ins elterliche Geschäft bittet, sagt Bochem zu. Am ersten Arbeitstag beobachtet er, wie sich der Buchhalter am kleinen Schreibtisch fast verrenkt. Bochem besorgt bei Ikea einen Tisch mit Tastaturauszug und kassiert den ersten Rüffel vom Chef: „Du musst hier nicht alles umschmeißen.“ Und doch wagt er mit des Vaters Unterstützung die Grätsche ins Hochparterre. Er mietet beide Etagen über dem Ladenlokal hinzu, als der Inhaber des – man glaubt es kaum – Stundenhotels einwilligt: „Wir brauchten Platz, und den bekamen wir.“

Da drängt sich die Frage auf, was einen Mann mit so einer vielfältigen Vita an diesem Ort hält. Die Antwort liefert der Gang durch das Labyrinth der Kellerräume. Hinter jeder Tür dampft und brodelt irgendwas, Metalle werden geschmolzen, gewalzt, gezogen und beschichtet. Die Verfahren sind komplex – und nicht ungefährlich. Seine 23 Kolleginnen und Kollegen hantieren mit heiklen Stoffen, etwa wenn Gold und Silber mittels heißer konzentrierter Salpetersäure getrennt wird. Gold- und Silberschmiede aus ganz Deutschland erwerben hier ihr Material für die Schmuckanfertigung und wählten Schiefer & Co. mehrfach schon zur „Scheideanstalt des Jahres“. Die Hauptkirche St. Michaelis übergab Bochem einen über 600 Kilo schweren Silberschatz, den Michel-Freunde für fünfzehn neue Abendmahlskelche spendeten.

Mit deutscher Sorgfalt und südländisch anmutendem Enthusiasmus erklärt Bochem Arbeitsschritte, referiert über die Entstehung von Gold und prangert die Ausbeutung von Kindern in Goldminen an – etwa in Burkina Faso: „Die schicken Kinder in enge, tiefe Stollen.“ Die Ellmenreich-Lösung: Waschgold aus Finnland und Recycling statt Minengold. Am Tresen wird er schon mal zum Therapeuten oder Glücksbringer. Etwa, wenn er einer Kundin anbietet, zusehen zu dürfen, wie ihr Ehering eingeschmolzen wird: „Mein Mann hat mich so verarscht, das tat mir gut. Danke.“ Oder wenn ein verarmter Mann seinen spärlichen Fund, einen dünnen silbernen Ring, abliefert: „Dann zahlen wir auch mal den Goldpreis.“

Dann öffnet Bochem geheimnisvoll das Platin-Medaillon am Lederband um seinen Hals: „Schnuppern Sie mal.“ Das Filzkissen in der Muschel duftet nach ätherischem Spearmint, es gibt weitere inspirierende Duftnoten im Angebot. Reinhard Bochem, Ideenschmied. Aktuelle Fachrichtung Edelmetall.

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