Kuchen essen
Text: Simone Buchholz | Illustration: Ralf Nietmann
Ernährung ist ja nicht nur was zu essen. Ernährung steht auch für Gefühl, Gesellschaft und die Verteilung von Macht, gerade in Hamburg. Die einen essen ab und zu mal ein Fischbrötchen, die anderen ein Leben lang Austern. Bezugnehmend auf meine jung verstorbene, französische Kollegin Marie Antoinette – „Sollen sie doch Kuchen essen!“ – verfüge ich deshalb mit sofortiger Wirkung ein bedingungsloses Kucheneinkommen für alle Hamburger und Hamburgerinnen ab dem Alter von einem Jahr an. Die allgemeine Kuchen-Flatrate beginnt also mit dem ersten Geburtstagskuchen und endet mit dem Tod, eine Erbfolgeregelung ist nicht nötig, denn es ist genug für alle da.
Es wird die ganze Stadt zum Guten verändern. Der Blutzuckerspiegel der Hanseatinnen und Hanseaten wird – ab jetzt – schlagartig ansteigen, sie werden emotionaler, wilder, rauschender, hinfort mit Langeweile und alten Gewissheiten, wir sind auf Zucker! Die faulen Leute, solche wie ich also, bekommen den Kuchen geliefert. Pardon. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, es hat gerade geklingelt.
(Die Königin von Hamburg verschwindet für einen Augenblick an die Tür ihrer nicht besonders großen, höchst unrenovierten Altbauwohnung, es ist ein kleiner Schwatz zu belauschen, die Themen sind Mandeln, Sahne, Himbeeren und Schokolade, dann ein Jauchzen, ein glückliches Seufzen, sie leckt sich die Lippen.)
Bonjour, hier bin ich wieder – wo waren wir stehen geblieben? Ach ja: die weniger faulen Leute.
Also andere als ich. Die arbeiten in all den gut bezahlten Jobs als Bäckerinnen und Patissiers. Dafür müssen wir natürlich Fachkräfte anwerben.
Die Zuckerbäckerdichte in Hamburg ist ja noch ausbaufähig. Es kommen also talentierte Leute in die Stadt, aus Österreich, aus Paris, aus Palermo. Aus Griechenland, aus Marokko, aus dem Iran, einfach von überallher. Und mit dem Zuwachs für die Kuchenküchen schießen die Bäckereien aus dem Boden. Was das Stadtbild verändert: Die kühle Eleganz wird von schwülem Rokoko abgelöst, es dampft und duftet in den Straßen, der Geruch von frischem Backwerk steigt uns allen rund um die Uhr in die Nase, die Diätindustrie stirbt einen schnellen, stillen Tod. Statt uns mit Regeln zu quälen, treiben wir sehr viel Sport, denn wir haben jetzt immer ein bisschen zu viel überschüssige Energie.
Die Menschen sind glücklicher, beweglicher, süßer. Der alte Satz – „Wir sind aus Hamburg, nicht aus Zucker“ – wird umgedichtet: „Wir sind aus Hamburg UND aus Zucker.“ Die Dichotomie aus hart und weich löst sich auf, denn wir dürfen neuerdings beides sein, der Kuchen für alle macht uns vielschichtiger und damit noch menschlicher. Die Bushaltestellen ändern sich, es werden mehr, weil die Busse natürlich nicht mehr nur an den bisher wichtigen Orten halten, sondern auch an den neuen wichtigen Orten – an jeder einzelnen Bäckerei.
Außerdem entwickelt sich eine Sprache des Kuchens. Sie hilft den Norddeutschen, die ja in emotionaler Linguistik traditionell etwas schwach auf der Brust sind, ihre Gefühle präziser auszudrücken. „Ich hab’ mich in dich verliebt“: viele bunte Petits Fours. „Ich fühle mit dir“: Sahnetorte jeder Art. „Ich möchte dein Fels in der Brandung sein“: ein mehrstöckiges Franzbrötchen. „Ich bin traurig“: Sachertorte. „Boah, das macht mich so wütend!“: Weihnachtsplätzchen. „Sie können mich am Arsch lecken, ich kündige“: Cannoli. „Ich lass’ mich scheiden“: Rumkugeln. „Ich hasse dich“: Napfkuchen ohne Ei und Backpulver. „Es ist so schön, dass es wehtut“: Baklava. „Ich bin total aufgeregt“: Meringue mit Vanillequark und gezuckerter Ananas. „Ich habe Fernweh“: New York Cheesecake. „Ich kann nicht mehr“: Schwarzwälder Kirschtorte.
Zusätzlich zum Hafengeburtstag wird alljährlich der Kuchengeburtstag gefeiert, am letzten Wochenende im September. Die gezuckerte Großveranstaltung strahlt weit über die Elbe hinaus, Hamburg wird ja bald die berühmte und von Diätpäpsten gefürchtete Kuchenhauptstadt der Welt, der Kuchengeburtstag ist also nicht nur ein nationaler, sondern auch ein internationaler, ach, was soll’s – weltweiter Feiertag. Der Hafen wird vom Tor zur Welt zum Tor zum Kuchen, und alle wollen dabei sein, als offizielle Staatsgäste zugelassen sind aber nur die Staatsoberhäupter von Demokratien, die ebenfalls darüber nachdenken, in ihren Ländern ein bedingungsloses Kucheneinkommen zu etablieren.
In der Bürgerschaft wiederum wird zur aktuellen Stunde, also während der großen, wichtigen Debatten, ab jetzt nicht mehr nur höflich dazwischengerufen – es wird gleich mit Torten geworfen. Dass die Bürgermeisterin oder der Bürgermeister in Zukunft Sahnebaisermeisterin und Sahnebaisermeister heißen, muss ich nicht extra erwähnen, oder? Oh, es klingelt schon wieder. Das wird wohl meine Marzipanrolle sein, der ich, nebenbei bemerkt, immer ähnlicher werde.