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Stillsitzprobleme

Text: Simone Buchholz | Illustration: Ralf Nietmann

Vielleicht reise ich so gern, weil ich eins dieser Kinder war, die nie, wirklich nie still sitzen konnten, und wenn man es genau nimmt, bin ich das noch immer. Ich bin ständig unterwegs, weil mir Bewegung guttut und meine Seele beruhigt, aber ich bin vor allem in Europa unterwegs, und das am liebsten mit dem Zug, wegen des Stillsitzproblems. Ich hasse und vermeide deshalb Langstreckenflüge, und auch wegen des Klimaproblems. Ich würde nie auf die Idee kommen, zum Beispiel nach Asien in die Ferien zu fliegen. Meine Beine fangen schon beim Gedanken daran, mehr als sechs Stunden still zu sitzen, an zu zappeln.

Jetzt war aber die Lage so, dass hier eine Einladung aus Toronto auf den Tisch geflattert kam. Internationales Festival, große Bühne, interessante Gespräche, gut fürs Geschäft. Ich erzählte es meinen Freundinnen, sagte aber auch im selben Atemzug, dass ich da natürlich nicht hinfliegen würde. Für drei Tage zweimal über den Atlantik, Pardon, wer macht denn so was? Meine Freundinnen schauten mich an, als wäre ich nicht ganz dicht:

„Spinnst du? Du wirst nie wieder nach Toronto eingeladen, also flieg da hin, verdammt noch mal.“ „Nicht für drei Tage“, sagte ich, „auf keinen Fall.“
„Dann besuch doch einfach jemanden, irgendwo in New York oder so, Himmel, du kennst doch angeblich so viele Leute.“

Ich dachte nach. Tatsächlich hab’ ich einen Freund in New York, der immer fragt, ob ich nicht mal vorbeikommen will, woraufhin ich immer antworte, klar, Digger, in New York vorbeikommen. Deine Mudder, einen Teufel werd’ ich tun. Ich rief ihn an und sagte, ich würde jetzt vielleicht doch. Er war begeistert.
Also schrieb ich den Festivalbetreibern, dass ich gern nach Toronto fliegen würde, aber nur über New York, und ob das auch okay wäre. Den Festivalmenschen war es egal, sie sagten, ich soll fliegen, wohin und von wo ich will, sie zahlen alles.

Und so saß ich ein paar Monate später in einem großen Flugzeug nach New York. Vier Stunden hat es nur gebraucht, bis ich anfing in meinem Sitz spazieren zu gehen. Aber irgendwann war ich da, und bald darauf auf dem Balkon meines Freundes im 17. Stock über Hell’s Kitchen. Der Freund servierte eiskalten Weißwein, Zigaretten und Gitarrenmusik. Der Freund ist überhaupt ein sehr guter Freund, er behandelte mich als das, was ich am liebsten bin: eine Mischung aus kleiner Schwester und streunender Katze. Ich bekam einen Schlüssel (Katzenklappe), einen Jutebeutel für den Amish-Supermarkt ums Eck (zerschlissenes Lederhalsbändchen), ein paar pro-forma-Aufträge – „geh mal da hin und grüß die oder den und bring dies und das mit, wenn du willst“ – (Verantwortung). Er musste ja tagsüber arbeiten. Ich hielt mich ein bisschen an den Aufträgen fest, verlässlich erledigte ich nur die Einkäufe und lief ansonsten einfach nur hin und her durch die Straßen und Avenues meiner Zwanziger. Ich besuchte den Union und den Tompkins Square, St. Mark’s Place, das Flat­iron Building, das Chrysler Building (schönstes Hochhaus der Welt, keine Widerrede), und am Washington Square bog ich ins Greenwich Village ab und suchte die Wohnung, in der ich mal zwei Monate gewohnt hab’, oder eher das Erdgeschossloch, in dem ich mal zwei Monate gehaust hab’, wir schliefen zu dritt in einem Zimmer.

Am späten Nachmittag war ich dann immer zurück in Hell’s Kitchen und schlüpfte durch meine
Katzenklappe direkt auf den Balkon, die Einkäufe warf ich vorher kurz beim Weißwein ab, irgendwo
links in dem großen amerikanischen Kühlschrank. Dann wartete ich, bis der Freund zu Ende gearbeitet hatte, und schaute der Sonne beim Untergang über Manhattan zu. Abends kochten wir zusammen zur in der Wohnung allgegenwärtigen Musik, oder wir luden uns bei seinen Freunden zum Essen ein, oder die Freunde kamen bei uns vorbei und brachten Essen mit, es war überraschend gleichförmig für eine so aufregende Stadt, aber letztlich wohnen die Leute eben auch da wie alle anderen auch, nur dass niemand mehr in Restaurants geht, weil es inzwischen ein Vermögen kostet, in New York auswärts zu essen.

Ach ja, und dann war da noch Toronto. Da gab es ein irres Licht über dem Lake Ontario, glitzernd und voller Wind, und im Lake Ontario bin ich sogar geschwommen, auch wenn das Wasser scheißkalt war und der Alkohol danach viel zu teuer, und oh, meine Lieblingskolleginnen waren da, sie sprachen wie immer das eleganteste Französisch. Und ich durfte mit einem bezaubernden älteren Herrn auf der Bühne sitzen, ein großer Schriftsteller der First Nations, wir hatten viele wichtige Dinge übers Schreiben zu besprechen. In der letzten Nacht hat es im Hotel kurz gebrannt, es gab einen großen und wilden Feueralarm, sehr große Feuerwehrautos und eine wilde Feuerwehrtruppe.

Auf dem Rückweg nach Hamburg machte ich dann noch mal zwei Tage Zwischenstopp in New York, wo ich genau genommen nur noch in Hell’s Kitchen auf dem Balkon des Freundes saß, weil Kanada viel zu aufregend gewesen war für eine, die sowieso schon so zappelig ist.

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