Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 38
HafenCity, südlich der Norderelbe. Es sieht nach Leerstand aus – doch hier herrscht feinste Subkultur! In Berlin, New York und Co. schon längst in himmelhochjauchzenden Sphären der Bedeutsamkeit gehoben, ist die hier ansässige Szene von Kreativen und sagenhaften Unternehmern gerade dabei, sich in ihren vielen Facetten zurechtzuruckeln. Man muss behaupten: Wer nur bis zu den Deichtorhallen und der Oberhafenkantine gekommen ist, kennt Hamburg nicht.
Stockmeyerstraße 43, bauer + planer: Alex trägt ein Holzmodell Wedeler Siedlungen in die Bauwerkstatt, Coworking Space für Handwerker. Ein einzigartiges Projekt, gegründet gemeinsam mit Till und Marcel. Alle drei sind Einzelunternehmer, aber ungern allein. Die Idee: ein Raum für Leute am Übergang zwischen Hobbywerken und Profibusiness, die sich oft keine eigene Werkstatt leisten können. „Für große Projekte buchen wir uns oft gegenseitig“, sagt Alex und lacht. Läuft. Überall hämmert und sägt es, Plätze sind sogar tageweise ab 50 Euro zu buchen.
Eine zweite Ebene wird gerade unter dem Dach eingezogen: Büroplätze, Raum für Architekten und Designer, die „Planer“. Eines der neueren Projekte am Oberhafen, doch gewerkelt wird schon länger. Von ihm, Nico Krüger, schlaksiger, sympathischer Typ, der sich mit zwei Kollegen und seinem Bruder hinten, zweite Reihe, eine Werkstatt zugelegt hat. Im Eingang stehen ein paar Autositze. Sieht aus wie gewollt, ist aber Zufall: „Ich musste für eine Lieferung die Sitze aus dem Auto nehmen, das hätte sonst nicht gepasst!“ Eine Theke für die Walfisch-Bar auf der Schanze. Dort wohnt Nico, „nur zum Schlafen“, sagt er, schneller, als man an Yuppies denken kann. Seine Wurzeln hat er im Gängeviertel, als gelernter Kaufmann mit seinem „großen, bösen Unternehmen“ Pfund & Dollar, das kleine Hersteller bei der Produktion von verrückten
Dingen unterstützt, die dann im La Döns verkauft werden. Vor dreieinhalb Jahren vermietete die Hamburg Kreativ Gesellschaft, eine städtische Fördereinrichtung, die Alte Bahnmeisterei im Oberhafen an den Gängeviertel e. V. Als Ausweichquartier während der Sanierung am Valentinskamp. Eigentlich auf Zeit – aber Nico blieb, genau wie der Club, das „Moloch“, ein paar Schritte weiter. Sein Kunsthandwerk brachte er sich durch Aushilfsjobs und „Einfach-machen“ selbst bei. „Für mich muss das Kunst sein. Daher gibt es von mir nur Unikate oder Sonderanfertigungen.“ Sein Holzlager besteht zu 95 Prozent aus Resten, aus dem er Holzteile im Zickzackmuster zusammenleimt oder Dielenböden zur Tischplatte umbaut. Am liebsten tagsüber – weil es nur dann Mittagstisch für die Kreativen gibt. Ein bisschen wie bei Harry Potter: einmal durch die Wand, zack, zauberhafte Welt, in der es leckeres Essen und noch nettere Menschen gibt, die sich beim Eintreten alle ein „Mahlzeit“ zurufen.
Normalerweise sind auch Petra und Jens hier, die Gründer der Hanseatischen Materialverwaltung und Vorzeigeprojekt des „neuen“ Oberhafenquartiers. Absurde, einzigartige Fundsachen aus Theater- und
sonstigen Welten füllen seit 2013 zwei Hallen. Die Idee brachte nicht nur Bühnenbilder an den Oberhafen, sondern auch Jens zu Petra – oder umgekehrt. Eine Freundin, lockere Liebschaft, heute Lebenspartnerin von Jens, wusste was beide verband, bevor sie sich kannten: Jens, als Künstler stets auf der Suche nach günstigem Material für das nächste kuriose Projekt. Petra, aus der Sicht großer Werbe- und Filmagenturen, die nicht mehr wissen, wohin mit den gebrauchten Bühnenbildern. Ihr Konzept musste binnen zehn Tagen auf dem Tisch der Kreativ Gesellschaft liegen, tatsächlich liegen beide bis heute mit den eingereichten Schätzungen von Fläche, Budget und Idee goldrichtig. Die Materialverwaltung wird gern als Pionierprojekt des rund 67 000 qm großen Areals dargestellt und ist Zeichen eines Umbruchs, den wohl keiner auf so lange Sicht miterlebt hat wie Jürgen Carstensen. Schräg gegenüber hat er sein Domizil und arbeitet seit ganzen 18 Jahren gänzlich unabhängig von Gesellschaften und Ausschreibungen. Sein Mietvertrag kam einst über die Bundesbahn zustande, für Flächen in der Ottensener Harkortstraße. Als der damalige Investor absprang, musste man Carstensen ein anderes Quartier anbieten. Und das war hier, im Oberhafenquartier, das damals noch der Bundesbahn gehörte, von der Freien und Hansestadt Hamburg zurückerworben und 2015 zum Gewerbegebiet umgeschrieben wurde.
Den auf 20 Jahre angelegten Transformationsprozess, bei dem das Gebiet im Auftrag der Stadt von Kreativ Gesellschaft und HafenCity GmbH zum „Place to be“ für neue, kulturelle wie kreativwirtschaftliche Arbeits- und Produktionsräume werden soll, sieht Carstensen durchaus kritisch. Schließlich hat er es ohne Förderungen geschafft, sich hier „festzubeißen“, hat mit seiner Foto- und Video-Produktionsfirma Living Art noch den Zoll am eigenen Leibe miterlebt. Wegen unangemeldetem Mitführens von Fotogeräten und Filmmaterial. „Um in den OH zu gelangen mussten wir durch Freihafen und Zollbereich. Dafür hätten wir jedes Mal alles anmelden müssen.“ Als man ihn zum dritten Mal erwischte, die eindeutige Verwarnung: Nochmal und es sei endgültig Schluss mit lustig! War es zum Glück nicht, denn hier im Oberhafenquartier findet er das, was es sonst kaum noch gibt: „Die kleinen Freiheiten. Zum Beispiel sein Auto zu parken, wo man möchte. Oder bei Tag und Nacht laut oder leise zu sein. Das Gelände hat eine unschlagbare Ausstrahlung.“ In Eigenregie stellt Carstensens Firma Fotosets für redaktionelle Wohn- und Einrichtungsideen her, produziert Strecken komplett eigenständig und verkauft diese. „Unsere Arbeit zeigt, dass Kreativität und Kunst nicht auf Förderung angewiesen ist, sondern sich auch so tragen kann.“
Auch die Halle 424, die über die Firma läuft und mit der Carstensen ein besonderes Konzept verwirklicht hat: Jedes Bühnenbild der regelmäßigen (oft ausverkauften) Jazz- und Klassikkonzerte existiert nur einen Abend. Manch ein Gast habe beim zweiten Besuch schon die Bar gesucht, die plötzlich woanders stand, erzählt Carstensen und lächelt verschmitzt. Auch wenn ihn der kreativwirtschaftliche Aspekt, der hier Einzug erhält, nicht unbedingt freut, seien die verschiedenen Künstler und Strömungen genau das, was den Ort ausmache, so Carstensen. Und dass die bei einigem Knatsch auch zusammenhalten, zeigt der Protest gegen den Abriss des Gleisdaches zwischen Halle zwei und drei. Halle vier, vordere Reihe, soll dennoch zurückgebaut werden und stattdessen
hier ein Sportplatz entstehen. „Das ist ja auch keinZustand“, sagt Wohnberaterin Johanna Schultz und scHaut auf das Loch im Glas der vorderen Front ihres Showrooms. Mit verrückten Wohngegenständen, großen Leuchtbuchstaben, ungewöhnlichen Lampen ist sie dann weiter vorn, zwischen all den anderen Künstlern und Projekten zu finden. „Wenn hier jeder einen festen Platz für seine Sache gefunden hat, ist auch die Gemeinschaft stärker. Schließlich sind wir alle daran interessiert, dass das Oberhafenquartier noch weiter zusammenwächst“, sagt sie. Denn trotz seiner Ecken und Kanten, würde Johanna diesen Ort auf keinen Fallverlassen: „Ich liebe vor allem den Weg hierher, an den Oberhafen. Wenn ich die Möwen kreischen höre und auf dem Gelände ab und zu eine Miesmuschel finde, dann ist das ist für mich das typische Hamburg.“