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Ortsporträt – Oevelgönne

 

 

AUTORIN: MARIANNE NISSEN-GRUBE  

FOTOS: RENÉ SUPPER, HAMBURG MARKETING/ANDREAS VALLBRACHT

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 40

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Kurzatmig Am Elbhang sind alle gleich: welcher Beruf, welches Einkommen? Egal, der Berg ist der große Gleichmacher. Wer in Oevelgönne lebt und nach „oben“ an die Elbchaussee will, in die Parallelgesellschaft, weiß, wie es um seine Kondition steht: den steilen Schulberg oder die 126 Stufen der Himmelsleiter hinauf. Und wieder nach unten. Mehrmals am Tag. Kein Auto kann hier vorfahren, gleich welcher Marke. Ein Statussymbol, das schon mal wegfällt. Man könnte also sagen: Oevelgönne ist klassenlos. 


Es gibt trotzdem immer wieder Schlaue, die den Schulberg herunterfahren und rückwärts wieder rauf müssen. Sie scheitern oft an der gemeinen Kurve an der alten Schule. Gelegentlich werden sie aus Fenstern mit Eiern beworfen. Denn: Mit dem Auto auf dem Schulberg ist uncool. Lieferanten ausgenommen. Deshalb ist man schließlich nicht hierhergezogen. „Hier möchte ich nicht wohnen“, sagen mitleidig die Besucher. „Hier muss ich ja alles schleppen.“ So ist es.


„Oevelgönne ist ein Hybrid. Man lebt hier voll aufm Dorf und gleichzeitig mitten in einer Metropole“,

 

sagt Sönke Busch, freier Art Director und einer der zahlreichen „Neuen“ in einem der gerade mal 110 Häuser zwischen Elbhang und Strand. Ein schmaler Weg führt an der Häuserzeile entlang, an der Elbseite liegen die Vordergärten. Wer vorn essen möchte, spurtet mit Geschirr, Salat und Torte im Zickzack durch den Besucherstrom über den schmalen Weg. Wie aufwendig – aber wiederum: wie typisch Oevelgönne. Inka Busch: „Und wo kann ich meine Kinder so rumlaufen lassen wie hier?“
Die bei Ost- wie bei Westwind geschützten Häuser sind eine Kulisse architektonischer Besonderheiten: Niedrige Katen aus holländischem Backstein aus der Zeit um 1730, die Türen original erhalten, ducken sich neben villenartigen Putzbauten mit kunstvollen Veranden, dazwischen durchaus schlichte Fassaden. Das eine oder andere Haus bekam in den Sechzigern eine schlimme Verkleidung, auch manches Sprossenfenster und mancher Fensterladen musste daran glauben. Der Gesamteindruck ist geblieben. Vijay Sapre erwarb vor zehn Jahren die Stadtvilla mit hohem Turm an der Ecke des Schulbergs, inklusive Kasematten. Den protzigen Bau errichtete 1887 der geschäftstüchtige Fischhändler Vorrath, er beobachtete die Elbe und lagerte in den Kasematten Eis, das er im Frühjahr gewinnbringend verkaufte. Außerdem füllte er Rogen vom Stör in Fässer, Kaviar.


Sapre hatte Pläne für die maroden Kasematten, die aus verschiedenen Gründen bei der Stadt nicht durchgingen. Im Haus produziert er seine Gourmet-Zeitschrift „Effilee“. „Es ist seltsam“, sagt er, „wenn du dann hier wohnst, bist du nicht mehr der, der hier vorbeijoggt, der denkt, das ist ja wie Disneyland. Dann lebt man hier. Doch man muss es wollen!“ Den Lärm des Containerhafens hat er unterschätzt. Sapre ist ein typischer Neu-Oevelgönner: Die Besitzer der Villa verkauften, weil sie nicht mehr miteinander redeten, der Blick faszinierte ihn, der Zeitpunkt passte. 
Architekten und Journalisten ziehen heute nach Oevelgönne mehr denn je, Schauspieler, Kreative jeder Art und Selbstständige. Familie Bellinger zog ins sogenannte Schnurrbarthaus, so genannt nach der Efeu-Girlande am Giebel. Ihr junges Eis „Fips“ wird selbstredend in „Strandperle“ und „AHOI“ verkauft, und zwar ausschließlich. Jens Fintelmann produziert Mare-TV, Katharina Marg entwickelt weltweit Wegeleitsysteme für Stadien und fertigt nebenbei Hundeleinen mit echtem Seemannsspleiß. Stephanie und Christian Kaul bauen mit ihrer Firma Raumschiff Interieurs für Läden und Gastronomie, Cyclassics-Gründer Christian Toetzke hat sein jüngstes überregionales Sportevent Hyrox gestartet.


Der Denkmalschutz schützt den Bestand der Häuser, doch im Inneren hat die Gegenwart Einzug gehalten. Die breiten Tropenholzböden, einst auf Schiffen als Ballast von Übersee gebracht, werden freigelegt und abgeschliffen. Kaum zu glauben, aber manches Haus wird erst heute systematisch trockengelegt. Räume öffnen sich, denn wo früher zwei oder drei Familien lebten, wohnt heute eine. Durch die Fenster spähen muss nicht sein, den Blick ins Innere der Häuser gibt das schöne Buch „Die Oevelgönn’schen Bilder“ frei, für das Michael Zapf alle Räume fotografierte, in denen Bilder von Ali Schindehütte hängen. Und die hängen praktisch in jedem Haus! Und wer ein Türschild von Ali bekommt in seiner unverwechselbaren Kalligrafie, jedes ein Kunstwerk, ist in Oevelgönne angekommen – oder besser: angenommen. Er zog bereits in den 70ern mit Bigs Möller hierher, in seinem idyllischen Hinterhof hat er über Jahre in Tusch- und Federzeichnungen, Druckgrafiken und Aquarellen den Mythos festgehalten, das Kinderparadies, das Märchen. Manchmal grotesk, immer voller spielerischer, überraschender Details. Natürlich war Schindehütte damals auch ein „Neuer“ – wie schon Peter Rühmkorf oder Volkwin Marg. Aber sie waren in der Minderheit.


Der Fluss ist immer in Bewegung, der Blick geht immer nach Süden. Auf dem Strand breiten die Besucher ein Tuch aus, zünden kleine Feuer an oder sitzen einfach nur so da. Gegenüber arbeiten wie von Geisterhand die gewaltigen Containerbrücken, grafisch ausgerichtet, nachts taghell erleuchtet. Eine Industrielandschaft dramatischer, utopischer  Schönheit, mit der das pittoreske Dorf in seltsamem Einklang lebt. Und direkt vor der Nase der Gänsehaut-Wendeplatz für 400 Meter lange und 50 Meter breite Containerschiffe. Brutale, gleichzeitig feinfühlige Schlepper bugsieren sie rückwärts an den Burchardkai, und zwar so, dass sie vor der roten Tonne 136 die Kurve kriegen. Faszinierend. Sogar die Oevelgönner schauen gebannt zu.


Genau hier liegt die „Strandperle“, bei Tripadvisor top bewertet und wie der gesamte Elbstrand von der „New York Times“ gepriesen. Ein unvergleichlicher Ort, wo man bei einem Aperol den Abend vorbeiziehen lässt. Wo man immer jemanden trifft. Und wo mancher gelegentlich verwundert staunt, wenn sie mal wieder abgesoffen ist, was auch im Hochsommer passieren kann. Um aus dem Wasser zu retten, was noch zu retten ist, zieht Wirtin Julia Toetzke dann schon mal den Neoprenanzug an. Hochwasserfest ist die „Perle“ ganz und gar nicht, 
bis auf die mit neuen Fluttoren gesicherte Küche. Sie zu betreiben – eine Herausforderung. Als Vullnet Rusani direkt neben der „Perle“ das „AHOI“ eröffnete, gab es Irritationen. Heute existiert man bestens miteinander, Gäste gibt es für alle genug. Im „AHOI“ ist Selbstbedienung, in der „Perle“ wird etwas teurer mit Karte am Tisch serviert. Und das „AHOI“ beginnt um 8 Uhr morgens als Hotspot der Hundebesitzer. Nirgendwo knüpft man schneller Kontakte, mit oder ohne Hund.
Schon 1978 hielten die Malerinnen Hilde und Christel Hudemann in ihrer Chronik „Oevelgönne – Neumühlen“ O-Töne, Rituale und Skurrilitäten vor dem Vergessen fest. Wie vorausschauend, denn die alten Familien Lührs, Schwenn, Hauschildt oder Jorjan sind inzwischen in der Minderheit. Nicht immer ist klar, was sie von den „Neuen“ halten sollen. Sie gehörten über Generationen zu den Fischern und Lotsen von Oevelgönne, viele Cap Horniers waren darunter. Beim Auslaufen winkten ihre Familien ihnen nach, vielleicht für immer? Ungefähr so, wie heute den Freunden auf einer turmhohen „Aida“ nachgewunken wird, aber eben nur ungefähr. Gewunken wird überhaupt viel: Ulf Wolter, Kapitän der „Europa 2“, schwenkt von seinem Oevelgönner Ausguck aus ein Riesentuch, wenn sein Schiff den Hafen verlässt, er gerade Freiwache hat. Sein Nachbar Andreas Jungblut, legendärer Kapitän der „Deutschland“, Oevelgönner Urgestein einer lange hier ansässigen Seefahrerfamilie, schwenkte beim Auslaufen immer eine Riesenhand, um Goodbye zu sagen – nicht ohne hemmungslos das Horn zu bedienen. Jeder wusste Bescheid.


Was macht das Leben in Oevelgönne aus? „Urlaubsstimmung pur, jeden Tag! Und die Nachbarschaft“, sagt Alex Bunge, Inhaber der Digital-Agentur „eins23“, seit einem Jahr hier. „Du gehst abends auf den Weg, triffst die Nachbarn, redest.“ Kennenlernen geht schnell. Kleine Gefälligkeiten, ein Werkzeug, ein Outfit ausleihen, Beistand, alles da. Immer wieder spontane Get-together, nie sind die Abende schöner, wie wenn sie in einem der Vordergärten oder in einem Hinterhof einfach so entstehen. Die Thalia-Schauspieler Leila Abdullah und Alexander Simon zogen von Oevelgönne nach Berlin. Zum Abschied hängten sie ein Banner an die Hauswand: „Es war zauberhaft.“ Was das nun wieder zu bedeuten habe, fragten sich die Touristen.


Ob sich die neuen Bewohner mit der Geschichte dieser Enklave beschäftigen, ob sie Hans Leips „Jan Himp und die kleine Brise“, Peter Rühmkorfs Tagebücher „Tabu“ lesen  oder „Die Oevelgönner Nachtwachen“ von Lovis H. Lorenz, der im sogenannten „Langen Jammer“ lebte? Ob sie wissen, wo Tante Frieda den letzten Krämerladen betrieb und wo genau die Bootsbauer noch Dingis bauten? Schwer zu sagen. Sicher ist, die „Neuen“ erfassen diesen ganz besonderen Mix aus Laubenpieper-Idylle und Globalisierung total. Mit dem freien Blick von außen nehmen sie die Häuser in Besitz, entrümpeln sie, renovieren sie sachkundiger, als es manch Alteingesessener konnte. Und beleben sie ganz ohne abgenutzte Seefahrerromantik. Sie sind Garant dafür, dass der Zauber hält.

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