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Komponistenviertel

Text: Till Briegleb | Fotos: Matthias Plander

Im Volksmund hatte das Neubau-Quartier an der Peterstraße nach seiner Fertigstellung Mitte der Siebziger schnell einen spöttischen Titel weg. Während die naserümpfenden Journalisten von einem „Altstadt-Disneyland“ sprachen, kursierte unter den Bürgern der Kalauer von der „Altbausammelstelle“. Das klang gemeiner, als es war, denn tatsächlich hatte der Getreide-Tycoon und emsige Mäzen Alfred C. Toepfer, der von Bürgermeister Herbert Weichmann 1965 das noch immer fast völlig zerstörte Areal in der Neustadt zur Wiederbebauung angetragen bekommen hatte, seinen Architekten Fritz Pahlke ganz der historischen Rekon­struktion verpflichtet.



Allerdings nur partiell im Stil der hier vor dem Krieg gewachsenen Gängeviertel mit ihren schiefen Fachwerkhäusern für arme Juden, Soldaten und Pros­tituierte – die in der Straße Hütten, was „Huren“ bedeutet, bis heute als Berufstätige im Schatten des Michel gewürdigt werden. Toepfer ließ die wenigen vor Ort halbwegs erhaltenen Ruinen – vor allem das Beyling-Stift von 1751 sowie zwei Hinterhofzeilen aus dem 18. Jahrhundert im ortstypischen Fachwerk-Klinker-Stil mit kleinen Wohnungen – einigermaßen originalgetreu wiederherstellen und mit stilgleichen Neubauten ergänzen.

Den größeren Teil des Gebiets zwischen Hütten und der ehemaligen „Judenbörse“, dem bis 1925 bestehenden Straßenmarkt an der Elbstraße (heute: Neanderstraße), veredelte sein Architekt in den folgenden Jahren aber durch prächtige Bürgerhäuser mit barocken Sandsteinportalen und imposanten Schmuckgiebeln, die in dieser Schmuddelecke der historischen Stadt nie beheimatet waren.



Auf Bronzeschildern an den pseudohistorischen Fassaden lässt sich nachlesen, wo Fritz Pahlke Altbauten gesammelt hat, um sie nach Fotos und erhaltenen Plänen so täuschend echt neu zu errichten, dass Besucher ohne Vorwissen die Bauzeit in längst vergangene Jahrhunderte verlegen. Katharinenstraße 6, Hüxter 6, Gröningerstraße 20, Düsternstraße 8, Bei den Mühren 51, Grimm 23, die Kopien edler Kaufmannshäuser stammen aus der kriegszerstörten Kernzelle des Hamburger Handelswohlstands rund um die Katharinenkirche. Heute sind es beliebte Wohnadressen, die anders als in Toepfers Idee für seine Insel der Erinnerungsarchitektur nicht mehr Seniorinnen und Senioren vorbehalten sind. Auch Studentinnen und Studenten leben in den 260 Wohnungen um die Ecke des Museums für Hamburgische Geschichte, speziell die der Musik, die wegen des neuen Leitmotivs des Ortes bis 22 Uhr ihr Instrument üben dürfen.



Denn das früher vor allem als Kulisse für Historienfilme, Krimis und Werbespots bekannt gewordene Ensemble mit seinen historischen Laternen, dem Kopfsteinpflaster und den nach außen zu öffnenden „Hamburger Fenstern“ hat seit einigen Jahren einen neuen Namen, der von einer gewandelten Nutzung erzählt: Komponistenquartier. Begleitend zum Bau der Elbphilharmonie wollte Hamburg sich als Musikstadt stärker positionieren, und deshalb beschlossen 2011 die Nachfahren Toepfers, deren Stiftung der Komplex bis heute gehört, mit der damals neuen Kultursenatorin Barbara Kisseler sowie einigen Stiftungen und wohlhabenden Privatleuten, in der Fachwerkzeile ein Museum zu den berühmtesten Musikern mit Hamburgbezug zu gründen. Das Konzept im Auftrag der Toepfer-Stiftung entwickelte 2012 der Musikmanager Philipp Adlung.



Ausgangspunkt dieser Neugründung, die in mehreren Einzelschritten bis 2018 eröffnet wurde, war das hier seit 1971 aktive Brahms-Museum, das im Kopfbau des Beyling-Stiftes untergebracht ist. Dem am 7. Mai 1833 in einem typischen Gängeviertel-Haus im Specksgang 24 geborenen Komponisten wurde quasi um die Ecke eine liebevoll würdigende Dauerausstellung auf zwei Geschossen gewidmet. Hier erfährt man viel Freundliches und Skurriles über den Komponisten des „Deutschen Requiems“ und Verfechter einer „dauerhaften Musik“. Etwa, dass er als 13-Jähriger Geld mit Kneipenmusik verdiente, entfernt mit Theodor Storm und Matthias Claudius verwandt oder ein glühender Verehrer von Bismarcks deutscher Nationalpolitik war.

Faksimiles von Kompositionen und Briefen, Büsten und Bücher, Kinderspielzeug und ein Tafelklavier aus der Zeit, als Brahms ein solches spielte, aber auch ein Exemplar des berühmten Grafik-Zyklus – der „Brahms-Phantasie“ – von Max Klinger, den der Leipziger Ausnahme-Künstler anlässlich des 60. Geburtstags seines bewunderten Freundes in mythisch-erotischer Manier zu dessen Musik schuf, malen die Welt des berühmtesten Hamburger Komponisten in bewundernd-romantischen Farben aus.



Diesem Requiem auf Johannes Brahms folgte an der Sammelstelle alter Komponisten 40 Jahre später als Erstes eine kleine Ausstellung zu jenem Musiker, der im Gegensatz zu dem in Hamburg verschmähten und erst in seiner Wahlheimat Wien verehrten Brahms das lokale Musikprogramm seiner Zeit nahezu allein bestritt. Der später als „Vielschreiber“ verspottete Georg Philipp Telemann komponierte nach seiner Berufung zum Hamburger Director Musices 1721 für 45 Jahre zu beinahe jedem Anlass ein neues Stück. Er schrieb Musik für Bootstouren auf der Alster und Tafelmusik für Festmahle von Kapitänen, Trauermusiken für diverse Bürgermeister sowie Aufbauendes zu privaten Jubiläen und neu besetzten Pfarreien. Er verantwortete zahlreiche Konzertmusiken und Vokalwerke, und zu jedem Sonntag lieferte er eine neue Kantate für die Gottesdienste in den Hauptkirchen – die er meist selbst einübte und dirigierte.



Rund 3600 verzeichnete Werke hinterließ Telemann, der zur Entspannung einen Garten vor der Stadtmauer hegte und sich von komponierenden Brieffreunden, etwa von Händel aus London, Samen und Zwiebeln schicken ließ, womit er vermutlich einige invasive Arten nach Hamburg brachte. Deswegen ist neben einem Asteroiden auch eine Dahlie nach ihm benannt worden, die in dem schmucken Hinterhofgarten des Quartiers blüht.



Nachdem diesem später in Vergessenheit geratenen superproduktiven Geist in den letzten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts wieder seine Originalität bescheinigt wurde, zog die Telemann-Gesellschaft 2011 mit ihrer Ausstellung als Nächstes in die Fachwerkzeile an der Peterstraße. Danach ging es raschen Schrittes über weitere Umwandlungen von Wohnungen in Museumsräume durch die lokale Musikgeschichte. Der „Hamburger Bach“ Carl Philipp Emanuel, der von 1768 bis 1788 Telemann als erster Musiker der Stadt nachfolgte, der in Bergedorf geborene Superstar der ernsten Oper im 18. Jahrhundert, Adolf Hasse, die 1805 und 1809 in Hamburg geborenen Geschwister Fanny und Felix Mendelssohn und schließlich Gustav Mahler, der bis 1897 sechs Jahre Erster Kapellmeister der Stadt war, bilden die alte Hamburger Schule.



Die weiteren sechs der glorreichen Sieben, die Hamburgs Ansehen nicht durch Bank-, sondern Musiknoten vermehrt haben, werden in einer einheitlichen Inszenierung auf einem Parcours durchs Erdgeschoss präsentiert. Trotz der Enge der Anlage wirkt das Ausstellungsdesign luftig, hell und originell. Die Räume öffnen sich zur Gartenseite durch eine Laube mit Pergola, in der die Besucher auf einer Bank an einer der vielen Lauschstationen den Gartenkonzerten Fanny Mendelssohns zuhören können, oder mit einer Art-déco-Sitzecke zur Gasse, um in Mahlers Lieblingsbüchern zu schmökern.



Das Frische an dieser multimedialen Einführung in die Lebenswelt von Musikern der letzten 300 Jahre ist die Animation des Geduldigen im Hören, Schauen und Lesen. Bildschirme fördern hier nicht die Wisch-und-Weg-Vergesslichkeit, die zur Primärwahrnehmung zu werden droht, sondern liefern vertiefendes Wissen zu den vielen Bildern und Texten an der Wand. Musik-Pfosten geben alle paar Meter Hörbeispiele, zusammengenommen viele Stunden. Und zu den biografischen und musikalischen Informationen erzählt die intime wie reichhaltige Ausstellung noch Stadt- und Stadtteilgeschichte, so zum Judenviertel am Michel und inwiefern Hamburg seine jüdischen Musiker vor Antisemitismus schützte. Aber auch Erinnerungen an das verbrannte Kulturerbe der traditionsreichen Hafenstadt werden wachgerufen, etwa längs der Radtouren, die Gustav Mahler in den 1890er-Jahren in Hamburg fuhr.



So entgeht das KomponistenQuartier elegant der Nostalgiegefahr, die in einem perfekt rekonstruierten Architekturensemble stets lauert. In der Geschichte ist wiederholt der Versuch unternommen worden, eine zerstörte Vergangenheit baukulturell zu reanimieren – von der Altstadt Warschaus und Yperns über die originalgetreue Wiedererrichtung von Symbolbauten wie dem Berliner Stadtschloss oder dem Michelturm bis hin zu neualten Quartieren in Dresden und am Frankfurter Römer. Die Erfahrung zeigt, dass diese Kopien keineswegs zwangsläufig zum hohlen Postkartenidyll geraten müssen. Wenn die Wiederherstellung des Gestern eine sinnvolle Funktion im Heute bekommt, fördert sie vielmehr die Besonderheit der Stadt.

Für diese neue Musik in scheinalten Gemäuern sorgt im KomponistenQuartier unter anderem ein kleiner Konzertsaal, in dem alte Musik lebendig neu interpretiert wird. Die eigentlich vitale Seele dieser Museums-Sammelstelle sind aber die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den Betrieb mehr als nur am Laufen halten. Rund 80 Freiwillige engagieren sich in Diensten, nicht nur, um einen regulären Museumsbetrieb sechs Tage die Woche von 10–17 Uhr zu garantieren. Das Privatmuseum profitiert enorm von der Begeisterung der Aufsichtskräfte für ihr Thema. Hier heißt es nie „Nicht anfassen!“, sondern hilfsbereit: „Was wollen Sie wissen?“



Dank diesem lebendigen Interesse an der ungewohnt reichen Musikgeschichte einer eher als Stadt der Krämerseelen und Kolonialhändler geschmähten Handelsmetropole ist aus dem angeblichen Architektur-Disneyland ein lebendiger Ort in der Neustadt geworden. Und der taugt jetzt nicht mehr nur für Historienfilme, sondern schreibt selbst Geschichte. Dafür muss der neugierige Mensch nur eins mitbringen: etwas Zeit.

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Diesen Artikel finden Sie in Ausgabe 58

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