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Miniaturwunderland

Text: Till Briegleb | Fotos: Jan Northoff

Die beste Voraussetzung, um hier zu arbeiten, sei es, sagt Ariana am Leitstand des Miniatur Wunderlands, „wenn du Spielzeugeisenbahn überhaupt nicht magst.“ Als Fan „siehst du das hier als Spiel und nicht als Arbeit.“ Doch das kleinteilige Patchwork an Infos auf drei großen und diversen kleinen Monitoren verlangt nach Profis. Umspült von Neugierigen, die den Aufpassenden vor den Bildschirmen über die Schulter gucken und gern auch Fragen stellen würden, müssen Ariana und ihre Kolleginnen und Kollegen in der offenen Schaltzentrale ein Wunder an Achtsamkeit leisten. 27 Gleisbilder gilt es, im Auge zu behalten. Elek­tronische Systeme melden, wenn an einem Abschnitt der 16,5-Kilometer-Bahnstrecke länger kein Zug durchgefahren ist. Dann wird die Stelle am Bildschirm erst gelb, dann orange und schließlich rot. Damit ist klar, dass wieder ein Kind einen Zug hochgehoben hat, eine Lok entgleist ist oder der Strom muckt.

Diese Fehler in der Matrix geschehen so häufig, dass im großen Hirn der Miniaturwelt ständig sechs bis sieben Menschen sitzen oder aus den Sesseln schnellen, um dann in der Schweiz aus einem Berg zu kommen, auf dem Flughafen als Riesin eine kleine Karambolage zu beheben oder im Hafenbecken nach dem Rechten zu sehen. Von sieben Uhr morgens bis ein Uhr nachts und mit unzähligen Nachtschichten. Denn ein Tag in der Traumwelt der Mobilität ist nur zwölf Minuten lang, dann wird es für drei Minuten dunkel auf den Speicherböden. Das macht 32 Nachtschichten pro achtstündigem Arbeitstag.

Aber die Mini-Schichtler wirken alles andere als von Widerwillen gegen ein Hobby erfüllt, das aus Opis Kellergruft ins Guinnessbuch der Rekorde auferstanden ist. Eine Rundreise hinter jene Schranken der größten Spielzeugeisenbahnanlage der Welt, die für Besucher nur bei Backstage-Touren mal aufgehen, zeigt Menschen in Werkstätten bei einem liebevoll wirkenden Demiurgentum. Sie erschaffen die Welt, die wir kennen, im Kleinen, aber dabei großzügig anders geträumt. Etwa Michel und Tanja, die einer neuen Speicherstadt im Maßstab 1:87 letzte Details hinzufügen: prägnanter als das alte Modell, dabei schmaler im Verhältnis zum wahren Bauensemble, in dem sie und die Anlage sich befinden. Schließlich müssen die Speicher am Wasserschloss wieder zwischen Geländer und Landungsbrücken passen in Little Hamburg, der Hauptstadt des Wunderlands.

Bevölkert ist der neue Liliputaner-Hafen von echten Protagonisten. Menschen, denen das Bastelteam auf dem Wasser und dem Kopfsteinpflaster des ehemaligen Freihafens begegnet, wurden von Frau Dr. Plastikfrankenstein, Teresa Liening, zusammenmontiert aus Schüttkästen voller Preiser-Figuren. Als fingernagelgroße Bürgerinnen und Bürger siedeln sie dann ins Kunststoffparadies: ein stadtbekannter Mann mit Ruderboot, eine Obdachlose mit mehreren Einkaufswagen und auch Michel, Tanja und Teresa selbst bei der Mittagspause auf der Bank. Der Kollege Lennert in der nächsten Koje verfolgt dazu schon länger den geheimen Plan, in jede Szenerie einen Roboter einzuschleusen.
Dieses subversive Unterfangen überrascht einen der Chefs, der selbst an der Anlage mitbaut, als er es hört. Aber Gerrit Braun, der mit seinem Zwillingsbruder Frederik, ihrem Vater Jochen (einem Fachmann für Flugzeugunfälle) und dem Programmierer und Techno-Experten Stephan Hertz 2000 das Projekt gestartet hatte, kann auch nicht alles wissen, was die mittlerweile über 400 Mitarbeiter beitragen. Er lässt den Teams gern ihre Freiheit. Weil es allen dient, wenn die skurrile Note dieses seit 23 Jahren wachsenden Projekts lebendig bleibt. Es ist ja der Sieg des Details über die Struktur, dem das Miniatur Wunderland seine ungebrochene Anziehungskraft verdankt. Das Kieken nach den winzigen Spielszenen, an denen fast 300.000 Figuren beteiligt sind, hält das Abenteuer am Leben. Überall trifft Alltag auf Theater. Und jetzt sucht mal die Roboter!

Gerrit Brauns Steckenpferd dagegen hat vier Räder. Der erklärte Autonarr entwickelt seit zehn Jahren den Großen Preis von Monaco in einer inzwischen fertiggestellten Gebäudecollage des Steuerparadieses. Vermutlich 2024 soll das Rennen öffentlich gestartet werden, wenn bis dahin der Fehlerteufel aus der Magnetrennbahn vertrieben ist. Der Tüftler, der wie ein Mensch wirkt, der ständig „on“ ist, hatte gerade schon die Nacht über Proberennen mit den winzigen Gefährten unternommen, bis die Fahrbahn glühte. Nun sucht er mit seinem Software-Fachmann weiter nach Bugs im Programm, das einmal ein echtes Rennen möglich machen soll, mit Überholmanövern, Reifenwechseln und vielleicht auch einmal mit Fahrerprofilen. Nico Rosberg war schon mal da, um sich den Petit Prix de Monaco anzusehen, und wurde beim Anblick sofort von Wehmut nach dem Geschwindigkeitssport befallen, wie Gerrit Braun erzählt.
In einer speziellen Energiemischung aus lässig und angespannt lehnt Braun an seinem Monte-Carlo-Modell zwischen Schwimmbad und Tunnel und beschreibt, wie sein Formel-Mini-Projekt immer wieder an physikalische Grenzen stößt, wie chinesische Fachleute die Magnetschwebebahn-Technik nicht für seine kleine Schleife optimieren konnten und dass sich die Abstimmungsprobleme speziell in den Kurven mit jedem weiteren Auto, das auf die Bahn gesetzt wird, exponentiell vergrößern. Von Resignation trotzdem keine Spur. Wer eine Spielzeugeisenbahn zur beliebtesten Touristenattraktion Deutschlands mit jährlich 1,4 Millionen Besucherinnen und Besuchern machen kann, den kann doch ein bisschen Naturgesetze nicht erschüttern.
Gerrit Brauns Sendungsbewusstsein ist dabei durchaus universell. In den Städten, die er bauen lässt, hat auch der Konflikt seinen festen Platz. „Wir bauen unsere Welt so realistisch wie möglich nach“, erklärt Braun seinen Willen zum Ungeschönten im Unterhaltungssektor, „und diese Welt ist nun mal sehr durch politische Ereignisse geprägt.“ Schon früh zeigten Vitrinen im Miniatur Wunderland historische Schlüsselszenen der deutschen Geschichte, vom brutalen Terror des NS-Faschismus über den Krieg bis zum trotzigen Aufmucken der 68er und dem Mauerfall. Im neuen großen Erweiterungsteil, der seit 2020 über eine gläserne Brücke im gegenüberliegen Speichergebäude zu erreichen ist, wird Rio de Janeiro nicht nur mit Copacabana, Zuckerhut und 11.000 Carnevalistas im schillernden Sambodromo, sondern auch mit dem Leben in den Favelas gezeigt. Und auf dem obersten Boden diskutiert eine Sonderausstellung die globalen Schattenseiten des Fleischkonsums.

Gerrits viel gesehenes Video-Tagebuch, in dem er seit Jahren über die Projekte des Wunderlands berichtet, erweiterte er kürzlich sogar um eine dreistündige Folge, in der er – so souverän wie Christian Drosten die Viruskrise kommentierte – über die nötige Energiewende sprach. Was bei einem Betrieb, der jährlich rund 2 Gigawattstunden (grünen) Strom für Züge, Licht und Klimaanlage verbraucht, als Thema naheliegt. In sehr abwägender Didaktik spricht Gerrit Braun darin auch über seine fundamentalen Zweifel an der Idee ewigen Wirtschaftswachstums und lobt Konzepte sozialer Marktwirtschaft wie die Gemeinwohlökonomie und die Kreislaufwirtschaft. Wie so ein paar Züglein doch eine neue Plattform schaffen … Um die große Welt auch im Kleinen ehrlich zu betrachten.

Auch Brauns Chefkoch der Welten steht zu diesem Ansatz, das Problematische nicht auszublenden, wo es sich in der Lebenswelt sichtbar zeigt: Gerhard Dauscher, einer der ersten Mitarbeiter des Projekts, ist verantwortlich für die grundsätzliche Entwicklung neuer Städte und Landschaften und sagt, dass sich natürlich speziell der Klimawandel und die Armut auch in einer Miniaturbühne der Welt abbilden müssen. Vielleicht ist es deswegen kein Zufall, dass das nächste Projekt im Südamerika-Speicher nach Rio und dem in karger Schönheit und Kälte erstrahlenden Patagonien die Atacama-Wüste ist.

Dieser trockenste Ort der Welt, dessen ultrarealistische Wiedergabe inklusive schwer verrosteter Züge gerade aus den Modellbauwerkstätten auf die fertigen Gerüste hinüberzieht, mag einen Vorgeschmack darauf geben, was auf die Menschheit zukommt, wenn sie weiter unbekümmert die Grenzen des Wachstums ignoriert. Bei aller bizarren Schönheit der Gelb- und Rottöne ist diese Wüste doch ein lebensfeindlicher Ort, der zu denken geben kann. Und in dem darauffolgenden Abschnitt zum tropischen Regenwald wird sich die bedrohliche Abholzung der grünen Lunge in Brasilien en miniature abbilden müssen. Wo Wunderland abgebrannt ist, wird es auch nicht verheimlicht.

So gesehen löst diese Weltausstellung, auch wenn sie das „Wunder“ im Namen trägt, die alten wissenschaftlichen Dioramen der Naturkunde- und Geschichtsmuseen ab, in denen Leben und Sterben von Tier und Mensch, Krieg und Frieden, ferne Städte und Landschaften für eine Generation gezeigt wurden, die noch nicht in einer Tagesreise von Bielefeld nach Bangkok reisen konnte. Die Faszination der weiten Welt im Speicher ist ungebrochen, vielleicht gerade weil es nicht der digitale ist. Obwohl der natürlich dahintersteht, wie man in der Leitzentrale sieht. Ohne gigantische Computerleistung wäre der nostalgisch wirkende Traum dieser Spielzeugwelt ein großer Stillstand. Aber die reale Vernetztheit des Globus mit Zwei- und Dreileitergleisen, auf denen Züge von Venedig nach Las ­Vegas reisen könnten, macht die komplexe Welt plötzlich wieder herrlich anschaulich und vertraut.

Aber das alles würde nicht funktionieren ohne das Staunen und den guten Humor. Die spürbaren Superlative dieser Anlage in Länge und Menge brauchen den Hang zum Verrückten, um alle zu begeistern. Dass auf Hamburgs Flughafen Han Solos „Millennium Falke“ startet oder im Volksparkstadion immer wieder der HSV gegen St. Pauli 4:3 gewinnt, dass in der Schweiz Superman abstürzenden Autos hilft oder in der Feuerwehrszene ausgerechnet das Finanzamt brennt, dass der Papst in Rom vor dem leeren Petersplatz predigt oder zwei Mönche eine blonde Frau beobachten, deren roter Ferrari stehen geblieben ist, das sind einige der vielen Episoden eines Volkstheaters, das die Welt ein bisschen weniger ernst, deprimierend und bigott erscheinen lässt. Um das als großen, cleveren Spaß zu erleben, muss man nicht mal Spielzeugeisen­-bahnen mögen.

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Diesen Artikel finden Sie in Ausgabe 61

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