Ortsporträt –
Hamburger Sternwarte
AUTOR: TILL BRIEGLEB
FOTOS: HOLGER WEITZEL, INGO BÖLTER, JAN KORNSTAEDT/HAMBURG MARKETING, MICHAEL ZAPF,
UNI HAMBUIRG
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 43
Es hat schon seine guten Gründe, warum die Astronomie in Mesopotamien, Indien und Südamerika entstand und nicht in Hamburg. Denn das Vorurteil, das Napoleon über die Deutschen äußerte, sie hätten sechs Monate Winter und sechs Monate keinen Sommer, trifft auf Hamburg ja wohl besonders zu.
Wer da in dem Schietwedder auf die Idee kommt, eine Sternwarte zu gründen, um die Gestirne zu beobachten, muss schon Tischler oder Sprötzmeister sein. Denn wann bitte kann man in Norddeutschland Wega,
Arktur oder Kapella sehen? Wo selbst der Blutmond im Juli 2018 überall herrlich am Himmel stand, nur nicht in Hamburg. Trotzdem gibt es hier eine große Sternwarte. Eine mit langer Vorgeschichte und historischen Erfolgen. Ein Observatorium mit diversen Teleskopen, dessen Ursprünge wie so vieles in Hamburg auf private Initiative zurückgeht. Eben auf einen Tischler und einen Feuerwehrmann und andere Hobby-Astronomen, die sich in Altona, am Baumwall oder auf dem Stintfang seit dem 17. Jahrhundert Dachstuben einrichteten, um mit dem neuesten Sicht- und Vermessungsgerät, das sie teilweise selbst herstellten, Sterne, Planeten und Kometen zu verfolgen.
Tatsächlich ist das Hamburger Wetter noch gar nicht so lange so schlecht wie sein Ruf. Bis in die Sech-zigerjahre, sagt Robi Banerjee, Professor für Astrophysik und Leitender Direktor der Hamburger Sternwarte in Bergedorf, konnte man 150 Nächte im Jahr das Universum sehen. Heute sind es 30. Die Schuldigen für den enormen Zuwachs an Wolkenbildung benennt der sympathische Institutsleiter, der sich auf seiner Homepage hemdsärmelig und lachend in einer Kneipe zeigt, auch ganz klar: Klimawandel und Flugverkehr. Vor allem die jährlich über 17 Millionen Passagiere, die der Helmut-Schmidt-Airport stolz als Kunden vermeldet, sorgen mit der Kerosinverbrennung an sonst klaren Tagen für eine Decke aus Zirruswolken.
Banerjee sieht aber wie die meisten seiner 70 Mitarbeiter auf dem eichenbestandenen Gelände der Sternwarte eh kaum noch durch die ehrwürdigen Rohre. Das astrophysikalische Forschungsinstitut der Universität Hamburg wertet hauptsächlich Daten ferner Teleskopstandorte aus: von Gipfeln, aus Wüsten und aus dem Orbit, also aus Gefilden, wo mensch-gemachte Verschmutzung mit Ruß und Licht sowie permanenter Nieselregen ziemlich unbekannt sind. Und diese Bewegung fort von den Städten begleitet auch die Geschichte der Sterngucker-Boviste in Bergedorf, die hier 1912 im dünn besiedelten Osten der Stadt eröffnet wurden.
Denn Reeperbahn und Straßenbahn verscheuchten die erste offizielle Hamburger Sternwarte aus der Innenstadt. Am Millerntor in den Wallanlagen, dort, wo heute das Museum für Hamburgische Geschichte
steht, verzweifelten die Profi-Astronomen des 19. Jahrhunderts an den Erschütterungen der Tram und dem bengalischen Leuchten von St. Paulis Nachtleben, vor allem im Winter, der Hauptzeit dieser Nachtarbeit. Denn nur dann sinkt die Sonne tief genug, dass der Himmel seine Geheimnisse offenbart. Seit 1825 wurde in einem Doppelhaus mit Zwischentrakt, als dessen erster Direktor das Mathematik-Genie Carl Friedrich Gauß vorgesehen war (was allerdings an Eifersüchteleien scheiterte), ins All gestarrt – mit zunächst ganz praktisch merkantilem Interesse, wie sich das für Hamburg gehört. Die klassische Positionsastronomie, für die im 19. Jahrhundert der Himmel vermessen wurde, diente weniger der wissenschaftlichen Erkenntnis als der Navigationsgenauigkeit auf See. Präzise Orts- und Zeitbestimmung mithilfe der Sterne zu ermöglichen, war den Hamburger Händlern die Ausgaben für ein eigenes Institut wert. Und auch das neue Ensemble auf dem Geestrücken des Elbe-Urstromtals in Bergedorf, mit dessen Bau 1906 begonnen wurde, lieferte noch Schifffahrtshilfe. Der berühmte „Zeitball“ auf dem Kaispeicher A an der Kehrwiederspitze, dem heutigen Ort der Elbphilharmonie, wurde von Bergedorf aus mit dem präzisen Maß beschickt. Jeden Tag exakt um 12 Uhr fiel der große Ball in seinem Gerüst herab, und jeder im Hafen konnte seine Uhr danach stellen.
Allerdings begann Zeit da schon sehr relativ zu werden in der Astronomie. 1905 veröffentlichte Einstein seine spezielle Relativitätstheorie und vier Jahre nach der Eröffnung der Sternwarte in Bergedorf die allgemeine.
Doch dass sich fortan das astronomische Beschäftigungsinteresse in annähernder Lichtgeschwindigkeit von einer Hilfswissenschaft für Kapitäne zur zweckfreien Forschung über die Ursprünge des Alls entwickeln würde, sah man zumindest der Architektur des Ensembles nicht an. Die lose über das damals baumfreie Areal verteilten Kuppelbauten imponierten durch pseudobarocken Stil mit Schmuckportalen. Dadurch wirken die Rundlinge direkt neben dem Bergedorfer Friedhof eher wie Mausoleen, obwohl die Sternwarte bei ihrer Eröffnung als die „modernste in Europa“ galt, wie Robi Banerjee weiß. Das revolutionär Neue an diesem Forschernest war nicht nur die Vielzahl an Feldstechern für das Firmament nach neuestem technischen Stand. Die Bergedorfer Sternwarte gab als eine der ersten Anlagen jedem
Fernrohr ein eigenes Gebäude. Diese Entkoppelung von den Wohn- und Verwaltungstrakten, mit denen sie bis dahin unter einem Dach vereint wurden, machte Messungen viel präziser. Denn nun konnte unabhängig von flimmernder Heizungsluft und menschlichen Erschütterungen klar in den Himmel geblickt werden. „Ein Knochenjob“, wie Banerjee sagt, denn die meisten der riesigen Teleskope wurden per Hand manövriert und im Pelz. Denn man blickte ja vor allem im Winter aus den ungeheizten offenen Kuppeln auf die Milchstraße.
Obwohl in dem Institut vor allem vor der Nazizeit ansehnliche Forschungen und Entdeckungen zu vermelden waren, ist die berühmteste Referenz dieser Sternwarte ein einarmiger Astro-Optiker mit starken Verbindungen zur Reeperbahn. Der estländische Teles-koptechniker Bernhard Schmidt, der seine Rechte als Kind beim Basteln mit Sprengstoff verlor, sagte über seine Linke: „Meine Hand ist empfindlicher als die feinsten Fühlhebel.“ Mit diesem organischen Super-in-strument schuf er in den Zwanzigern den bis heute nach ihm benannten Schmidt-Spiegel, der optische Verzerrungen an den Rädern der Aufnahmen so korrigiert, dass man große Ausschnitte des Himmels erstmals in gleichmäßiger Schärfe abbilden konnte. Als Genie mit Keller-Atelier im Haupthaus der Sternwarte – das übrigens von Albert Erbe entworfen wurde, der Hamburg so prägende Bauten wie die alte Finanzdirektion am Rödingsmarkt, das Völkerkundemuseum und die Navigationsschule an den Landungsbrücken hinterlassen hat – erhielt der Exzentriker Schmidt Sonderfreiheiten. So verschwand er manchmal tage-lang für „Bierferien“ auf dem Kiez und galt als nicht steuerbar. 1935 bekam er vermutlich eine Psychose und starb in der NS-Psychiatrie unter nie wirklich geklärten Umständen, angeblich an einem „Behandlungsfehler“. Überhaupt war das Dritte Reich auch für die Bergedorfer Sternwarte eine hässliche Zeit.
Der Gründungsdirektor Richard Schorr ließ die ihm verhassten Astrologen von seinen Mitarbeitern bespitzeln und brachte sie durch Denunziation bei der Gestapo ins KZ. Weniger geistig gleichgeschaltete Kollegen, wie sein Nachfolger Otto Heckmann, der auch eine jüdische Mitarbeiterin tarnte, litten dagegen vor allem unter der „Deutschen Physik“. Diese Nazi-Doktrin, die alle Erkenntnisse von jüdischen Wissenschaftlern ablehnte, brachte Forschung auf der Basis von Einsteins Relativitätstheorien in den Ruf des Volksverrats – für eine astronomische Einrichtung quasi die Aufforderung zur Selbstverschwachsinnisierung.
Heute ist die Forschung in Bergedorf ideologiefrei über ideologische Grenzen hinaus. Die Entwicklung des neuen Röntgenteleskops eROSITA gemeinsam mit der russischen Raumforschung Roskosmos etwa verlief
völlig reibungslos. Im Juni soll eROSITA vom kasachischen Weltraumhafen Baikonur ins All starten und von seinem Standort in 1,5 Millionen Kilometern Ent-fernung 100.000 Galaxien finden und vermessen. Nieselregen ausgeschlossen. Aber das vielleicht spannendste Forschungsfeld in Bergedorf, das mit für den Besucheransturm an Tagen der offenen Tür verantwortlich ist, dürfte die Suche nach Leben im All sein, mit dem sich auch Robi Banerjee befasst. „Wir wissen dank der immer besseren Geräte jetzt, wo und wie wir hinsehen müssen“, sagt der freundliche Alienjäger, der allerdings eher den Nachweis von Bakterien erwartet als von grünen Männchen. Die Analyse der Planetenatmosphären lässt Rückschlüsse zu, ob es auch fern der Erde Prozesse des Lebens gibt – oder besser gab, denn bis das Licht bei uns ist, ist es da oben vielleicht schon wieder aus. Auch für den Kosmos auf dem Gojenberg soll die Zukunft ein bisschen aus der Vergangenheit gewonnen werden. 1996 wurde die Sternwarte inklusive aller technischen Geräte unter Denkmalschutz gestellt, und seit 2007 bemüht man sich um die Anerkennung als Weltkulturerbe, jedenfalls im Verbund mit vergleichbaren Sternwarten in Argentinien, Portugal, Russland, Algerien oder Estland. Dass dies überhaupt möglich ist, verdankt das Observatorium dem Sternen-glück. 1942 fielen ein britisches Flugzeug und 100 Brandbomben hier nieder. Es verbrannte aber nur ein alter Korbstuhl. Schlechte Sicht in Hamburg hat vielleicht auch Vorteile.