Kirstine Fratz
ZEITGEISTFORSCHERIN
Text: Simone Rickert | Fotos: Jan Northoff
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 60
Der Zeitgeist ist nicht unsichtbar. Trainiert man Augen und Ohren, kann man ihn erkennen und begegnet ihm an vielen Orten. Er ist vielleicht in der Welt, seit die Menschen sich bewusst mit ihrer Zukunft beschäftigen. Seinen Namen erhielt er erst 1769 vom Philosophen Herder. Goethe verhalf ihm im „Faust“ zu Bekanntheit, das Wort so besonders, dass es es als Lehnwort schaffte in die englische und weitere Sprachen.
Kirstine widmet ihm ihre wissenschaftliche Arbeit. In Bremen hat sie Alltags- und Populärkultur und Anthropologie studiert. Das Wichtigste, was sie dort gelernt hat, ist das Neue, das Fremde tatsächlich wahrzunehmen, ohne es nur mit dem abzugleichen, was man schon kennt. In Hamburg ist sie geboren, ihre Mutter stammt aus Dänemark, ihr Vater aus Bayern. Nach dem Interview holt sie ihre Tochter von der Schule ab, in ein paar Tagen geht sie wieder auf Reisen für einen Vortrag vor Mitarbeitern eines internationalen Konzerns. Zwischendurch räumt sie die Spülmaschine aus und denkt, dass künstliche Intelligenz vielleicht schon bald eine ebenso große Bereicherung des Arbeitsalltags wird, wenn auch mit größerem Gefahrenpotenzial als die „Hausroboter“. Sie hat in Trendbüros neue Vermarktungsideen für Margarine entwickelt, und von der Zukunftsforschung ist ihr derzeitiges Tätigkeitsfeld auch nicht weit entfernt. Doch beides schien ihr noch nicht auf den Punkt zu kommen.
Ihr begegneten Vorstellungen davon, wie sich Menschen die Zukunft wünschten, doch beim Blick darauf, wie die Zukunft in der Vergangenheit stattgefunden hat, sah sie: „Das hatte wenig damit zu tun, was sich die Leute erträumt hatten, oft ganz im Gegenteil.“ Beispiele? Weltausstellungen um 1900, das Haus der Zukunft mit allem drin, was denkbar war, inklusive Flugzeugparkplatz auf dem Dach. 15 und 40 Jahre später Luftangriffe über den Städten, die individuelle Luftfahrt bis heute jedoch wenigen Privatleuten vorbehalten. In den 80er- und 90er-Jahren Friedensbewegung, Space Shuttles, Vegetarismus – nur das Internet hatten kaum Leute auf der Rechnung. Dann war es da, mit allen seinen Konsequenzen. Kirstine erkannte die Diskrepanz zwischen dem, wie wir glauben, dass es sein wird, und dem, wie es wirklich wird.
Seitdem interessiert sie nur noch das genaue Betrachten der Gegenwart, in der sich jetzt schon abzeichnet, was werden möchte, welche Sehnsüchte unsere Gesellschaft treiben, Tatsachen, keine Trends. Wo trifft sie den Zeitgeist? Dort, wo er aus mehreren Quellen zu ihr spricht. Zum Beispiel im Genre Science-Fiction-Film, das sie als ein Zeitgeist-Labor bezeichnet, weil dort dramaturgisch mit neuer Sehnsucht von Menschen gespielt werden kann. Ein fliegendes Auto schafft es nicht zurück in die Zukunft, nicht in Kirstines Forschung. Wohl aber ein Gedanke: Aus „Pacific Rim“ nimmt sie die Idee, dass komplexe Roboter (oder auch Projekte) in Zukunft von zwei sich im Einklang befindenden Individuen gesteuert werden müssen – Vernetzung der Kompetenzen. Ihre Methode der Konsolidierung: Sie ist dieser Strömung schon mal begegnet, in Gesprächen mit Freunden oder in den Nachrichten, lässt Umfragen unter ihren Studierenden folgen. Wenn sie liest, dass Jobs aus der Tech-Welt explizit für Duos ausgeschrieben werden, erfolgreiche Designbüros von Ehepartnern und Restaurants von Sommelière-Koch-Teams gegründet werden, identifiziert sie eine gesellschaftlich relevante Strömung. Ihr Buch „Vom Zeitgeist“ ist voll von solchen Beispielen.
Hier und jetzt sieht sie den Wirkungsraum von Zeitgeist: „Zeitgeistforschung ist in erster Linie eine neue Art, die Gegenwart zu reflektieren.“ Eine Viertagewoche, Arbeitsstrukturen, in denen ein aufbrausender Chef nicht mehr als starke Führungskraft gilt, sondern jener, der seinem Unternehmen dient, indem er den Mitarbeitern eine zielführende Kreativität ermöglicht. Und wenn daraus mehr Zeit für Familie oder aus einem modernisierten Bildungssystem kompetente Arbeitskräfte statt beklagtem Fachkräftemangel erwachsen? Ein liberales Gedankenspiel, dem in unserem binären Gesellschaftssystem die Bewahrer die Frage nach dem Verlust von Wohlstand und Rentenkasse entgegensetzen. Gut? Schlecht?
In ihren Vorträgen fragt sie die Zuhörenden: „Haben Sie in Ihrem Leben erreicht, was Sie sich vor zehn Jahren erträumt haben: Status, Familie, Haus, Beruf?“ Hände gehen nach oben. „Und ist es jetzt fertig, ist es gut, so wie es bleiben soll?“ Hände sinken. Der Zeitgeist ist dynamisch, nicht an Linearität interessiert. Wenn man noch nicht einmal für sich selbst sicher sein kann, was man wollen wird, wie kann man meinen zu wissen, was sich in Zukunft für viele Menschen bewährt? Die Frage lenkt weg von ideologischer Diktatur hin zur Einsicht, macht offen für einen „dritten Weg“: nicht kompromisslos vorpreschen und auch nicht retrospektiv verharren, sondern akzeptieren, dass etwas anders werden möchte. Das frühzeitige Erkennen, Fördern, Vermitteln und Gestalten auf dem Weg zum Neuen: Wie das gelingt, dieser Frage widmet sie sich in ihrem zweiten Buch, das bald erscheint.