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ALL THINGS LETTERS

Text: Regine Marxen | Fotos: Uta Gleiser

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 59

Eigentlich war lettering eine Flucht für sie. „Ich wollte mich nicht mehr mit Figuren befassen“, erklärt Chris Campe. „Und nicht mehr entscheiden, ob die Frauen, die ich zeichne, lange oder kurze Haare haben. Also habe ich mich auf Schrift spezialisiert.“ Die 44-Jährige lächelt und wirkt dabei seltsam ernsthaft. Ihre Arbeiten versprühen Leichtigkeit, sind verspielt, auch mal gradlinig, ziehen den Blick an wie ein Magnet. Sie befinden sich auf Buch- und Magazincovern, in Zeitschriften, auf Produkten und an Wänden. Chris Campe gestaltet individuelle Schriftzüge, das ist es, was Lettering meint. Im Grunde lassen sich so Geschichten erzählen, ohne konkrete Bilder zu nutzen. Da sind wir wieder bei der Frage nach der Haarlänge. „Ich wollte nicht, dass die Figuren, die ich zeichne, dieselben Probleme hatten wie ich als Mensch. Nämlich, dass ich für einen Mann gehalten werde, weil ich kurze Haare habe. Die Frage ist doch: Bilde ich die Wirklichkeit mit meinen Illustrationen ab oder erschaffe ich sie erst?“ Also wurde sie Lettering Artist. Unter anderem. Es schlagen viele Herzen in ihrer Brust – und sie alle haben mit Buchstaben zu tun.

Aufgewachsen ist Chris Campe in Wals­rode. Hier machte sie auch eine Ausbildung zur Buchhändlerin, später studierte sie Illus­tration an der HAW Hamburg. Insgesamt sechs Bücher hat sie bis heute verfasst. Zwei davon über Hamburg, eines über tolle Orte und eines über typografische Spuren in der Stadt. Sie schrieb Fachbücher über Lettering, hat aber auch Prosatexte verfasst und ist als Stipen­diatin des Fulbright-Programms nach Chicago gegangen, um dort ihren Master in Visual and Critical Studies abzuschließen. 2014 machte ­sie sich schließlich mit ihrem Unternehmen All Things Letters selbstständig. Ihr Büro liegt am Venusberg nahe des Michels in einer denkmalgeschützten 50er-Jahre-Ladenzeile. Durch die große Schaufensterscheibe kann man ­Chris Campe beim Arbeiten beobachten – wären da nicht die großflächigen weißen Buchstaben auf besagter Scheibe. Das ABC in Acrylfarbe, ein ziemlich guter Ersatz für Gardinen und eine beachtliche Visitenkarte, die schon von Weitem sichtbar ist. Vor allem aber ein Beispiel für einen typischen Campe-Twist. Es sind Lettern mit doppeltem Boden, wenn man so will.

Was sie als Künstlerin interessiert, ist die Abweichung von der Norm. „In meiner Familie gehöre ich zur ersten Generation, die studiert hat, und bin die erste Künstlerin. Ich bin queer, Vegetarierin und begeisterte Radfahrerin. Das soziale Umfeld, in dem ich heute lebe, ist also ganz anders als das, in dem ich aufgewachsen bin. Vielleicht achte ich deswegen mehr auf Normen und Abweichungen als andere.“ Auch das von ihr gemalte ABC auf dem Fenster weicht von der normierten Form ab. Die Buchstaben gehen ineinander über. Das B ist unten bereits ein C und so weiter. „Das ist genau das, was mich an der Darstellung von Gender interessiert – und obwohl ich heute nur noch Schrift gestalte, findet sich dieser Fokus in vielen meiner Arbeiten wieder.“

Ihre Ideen und Gedankenspiele kommen an und brachten ihr unter anderem eine Einladung zur Adobe MAX in Los Angeles ein. Sie hielt dort einen Vortrag über experimentelles Lettering, man kann ihn sich auf ihrer Homepage anschauen. Die Frage, ob Lettering ein Trend ist, der sich mit zunehmender Digitalisierung verabschiedet oder von der künstlichen Intelligenz übernommen wird, scheint damit beantwortet. „Ich fühle mich beruflich jedenfalls nicht bedroht.“

Wie aber, jenseits des theoretischen Unterbaus, entstehen Schriftzüge ganz praktisch gesehen? Im ersten Schritt arbeitet Chris Campe fast immer analog. Das ist eine bewusste Entscheidung. Am Computer lassen sich Fehler in den Skizzen schnell korrigieren. Jeder Strich lässt sich fix rückgängig machen. Auf Papier geht das nicht. Das kann Nachteil, aber auch ein Vorteil sein. Denn genau dieser Fehler könnte sich am Ende als genau der richtige Strich an der richtigen Stelle entpuppen. Zeichnungen entwickeln sich einfach anders auf Papier, auch weil man nicht bis ins Unendliche hineinzoomen und sich so in Kleinstdetails verlieren kann. Und auch die Haptik spielt eine Rolle. „Wenn ich lange zeichne, wellt sich das Papier irgendwann von der Feuchtigkeit der Hand. Es ist ein dreidimensionaler Vorgang, ganz anders als beim digitalen Zeichnen.“ Zum Skizzieren nutzt sie Bleistift, Filzstift oder Pinsel, klein, groß, spitz, je nach Motiv. „Der Stift oder die Zeichenwerkzeuge an sich sind aber nicht aus­schlaggebend, weil es fast immer um die Ideen geht und um das Handwerk.“ Das beherrscht sie. Am Ende entscheiden neben der Kreativität eben auch die zehn Jahre Erfahrung, die Chris Campe in ihrem Job gesammelt hat. Viel hat sie schon erreicht, leer ist ihre persönliche Bucketlist deshalb nicht: Sie würde gern einmal die Schaufenster vom Alsterhaus gestalten, weil sie so herrlich groß sind. Ganz konkret wird sie in diesem Jahr an ihrem Roman schreiben und sich dafür als Literaturstipendiatin drei Monate ins Wendland zurückziehen. Schreiben, erzählen, gestalten – alles mit Buchstaben: Chris Campe hat ihre Form gefunden. Jenseits der Norm.

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