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Nach Sommer kommt kalt

HILFSORGANOSATION

Text: Regine Marxen | Fotos: Julia Schwendner

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 61

Ein unvergesslicher Moment? „Als die Invasion in der Ukraine im vergangenen Jahr begann“, sagt Claudia Meister. „Wie viele Menschen vor der Tür standen, Sachen vorbeibrachten, wie viele Unternehmen anriefen, Mails schrieben, weil sie helfen wollten. Eine unglaubliche Solidaritätswelle.“ Und eine logistische Meisterleistung. Aber genau das ist es, wofür Hanseatic Help steht. Für unbürokratische, schnelle Hilfe, die genau da ankommt, wo sie gebraucht wird. Wie schafft der Verein das eigentlich?

„Einfach machen.“ Für Hanseatic-Help-Geschäftsführerin Claudia Meister ist das das Geheimrezept – und das Hanseatische an Hanseatic Help. „Wir helfen einfach, ohne zu fragen, warum der- oder diejenige Hilfe benötigt. Und das bedarfsgerecht.“ Im Logistikstandort in der Großen Elbstraße 264 nimmt der Verein Kleider- und Hygienespenden an, sortiert sie und leitet sie kostenfrei an inzwischen mehr als 300 Einrichtungen für Menschen in Notlagen weiter. An Geflüchtete, Obdachlose, Familien mit geringem Einkommen, Kinderheime, Frauenhäuser, soziale Beratungsstellen. Außerdem liefert Hanseatic Help in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen Hilfsgüter in Krisenregionen. Dort werden oftmals ganz andere Dinge benötigt als Kleidung. Decken oder Powerbanks zum Beispiel. Diese Sachen müssen beschafft werden, und zwar schnell. Das klappt nur, wenn Prozesse höchst flexibel sind. Als der Krieg in der Ukraine begann, verhängte der Verein kurzfristig einen Annahmestopp für Sachspenden, die in diesem Fall nicht gebraucht wurden, um sich mit allen Kräften auf die Beschaffung des Notwendigen konzentrieren zu können. Situationen wie diese erfordern die Bereitschaft aller, mitzuziehen. Aber damit kann man hier um. Das Mindset ist Teil ihres Gründungsmythos.

Ein Blick zurück: 2015, im Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise, wurden 1200 Menschen provisorisch in der Hamburger Messehalle B6 untergebracht. Sie hatten kaum das Nötigste, es fehlte an allem. Die Hilfs­be­reitschaft der Hamburgerinnen und Hamburger war einfach überwältigend. Berge von Spenden kamen zusammen. Kleidung, Spielzeug, Hygieneartikel. Über Nacht formierte sich ein Organisationsteam, das die Kleiderkammer in den Messehallen aufbaute, Strukturen schuf, um all die Sachspenden sortieren und an die Geflüchteten weitergeben zu können. Tausende Menschen unterstützten sie dabei, kamen einfach vorbei. Sie wiesen sich gegenseitig ein ins Prozedere vor Ort, jeder und jede den Vornamen mit Filzstift auf Malerkrepp geschrieben auf der Brust klebend. Alles ganz unkompliziert. Hauptsache, der Laden rollt. Corinna Walter war damals auch dort. Eigentlich wollte sie nur Spenden abgeben, vielleicht ein bis zwei Stunden mithelfen. Heute sitzt sie im Vorstand von Hanseatic Help.

„Ich habe den Weg aus der Halle irgendwie nicht mehr rausgefunden“, sagt sie lachend. Was hat sie gehalten? „Man musste nicht drei Wochen eingearbeitet werden, man musste sich nicht verpflichten. Und dann das Gefühl: Hey, hier kommen ganz viele positive Menschen zusammen, die die Gesellschaft ein bisschen ändern wollen, die was Gutes tun wollen.“ Corinna gehört zum Gründungsteam von Hanseatic Help, erlebte dessen Umzug von der Messehalle in die Elbstraße Anfang 2016. Der Verein wuchs schnell und mit ihm die Aufgaben. Mit einem reinen Ehrenamt war das nicht mehr zu wuppen, neben Job, Familie und allem, was so ein Menschenleben mit sich bringen kann. „Wir stellten fest: Wir brauchten hauptamtliche Mitarbeiter, die sich um den Verein kümmern“, sagt Corinna.

2018 stellten sie vier Mitarbeiter fest ein. Heute sind es 24. Hinzu kommt ein Pool von 150 Menschen, die regelmäßig ehrenamtlich helfen, die Spontan-Freiwilligen, die nach wie vor einfach so reinschauen, um mit anzupacken, und die Corporate-Volunteering-Teams. Letztere sind Mitarbeitende von Hamburger Unternehmen, die für einen Tag gemeinsam ihren Arbeitsplatz im Büro gegen die Hallen von Hanseatic Help tauschen. Firmen können sich über die Website des Vereins anmelden. Diese Social Days sind ziemlich beliebt, bis Jahresende sind alle Termine ausgebucht.

Unten an der Elbe haben die Vereinsmitglieder also in sehr kurzer Zeit eine bemerkenswerte Professionalisierung hingelegt. Leicht war das nicht, erinnert sich Corinna. „Früher hatten wir die Idee, Entscheidungen basisdemokratisch zu fällen.“ Mit den Festangestellten gäbe es jetzt natürlich auch Hie­rarchien. „Aber wir arbeiten immer noch niedrigschwellig, um agil zu bleiben.“

Eben einfach machen. Im vergangenen Jahr wurden über 1,3 Millionen Artikel an Notleidende ausgegeben. Und das, obwohl Corona die Hilfsorganisation kräftig durcheinandergewirbelt, der Krieg in der Ukraine das Team gefordert und das Erdbeben in der Türkei und Syrien nochmals einen draufgesetzt hat. „Als das passierte und schon wieder alle Telefone klingelten, da dachte ich kurz: Ich will jetzt auswandern“, sagt Claudia Meister. Aber dann fuhr die Maschinerie im sogenannten Unterdeck des
Logistikzentrums hoch – und ihr Energiepegel gleich mit. Freude kann ein gewaltiger Motor sein. Die Freude darüber, dass sie gemeinsam in einem so heterogenen Team so viel wuppen können. Dass sie trotz der nicht enden wollenden Serie von Herausforderungen immer noch zusätzliche Projekte stemmen können. Die Hanseatic Help Stores zum Beispiel, ein Ort, wo Bedürftige in Ruhe Kleidung aussuchen und anprobieren können. Der vierte Store wurde gerade in Harburg eröffnet. Oder die Aktion „Fairer Schulstart für alle Kinder“: Zusammen mit BUDNI und mehreren Hamburger Rotary Clubs haben sie zum Schulstart 1500 Ranzen an Familien in Not verteilen können, gefüllt mit den wichtigsten Utensilien für den Lernalltag. So handfest lässt sich die Welt, lässt sich Hamburg ein Stück besser machen. Überall brennt’s, aber wenn wir zusammenhalten, dann können wir auch etwas verändern.

Aber es wäre natürlich eine Illusion, zu glauben, dass bei Hanseatic Help alles rosarot ist. „Auch wir müssen sehen, wie groß wir noch werden können“, sagt Claudia. Es ist eine Gratwanderung zwischen Können und Wollen, zwischen formellen Anforderungen und informellen Lösungen. Diesen Balanceakt, den Gründungsmythos, das innere Feuer, am Leben zu erhalten, meistert die Hilfsorganisation seit ihrem Bestehen. Vielleicht ist das die größte aller Herausforderungen – und der größte Erfolg.

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