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An der Nadel

PLATTENRILLE

Text: Jörg Fingerhut | Fotos: Jan Northoff

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 58

In der ehemaligen Werkstatt stehen Menschen vor bauchhohen Regalkisten, die Hände vorsichtig auf den Schutzhüllen mit den Langspielplatten. Zeigefinger und Mittelfinger im Wechsel ziehen die einzelnen Exemplare nach vorn, kurzer Blick auf das Cover-Artwork und weiter. Hin und wieder wird eine Platte vorsichtig nach oben gezogen, umgedreht, kurzer oder auch längerer Blick auf die Track-Liste. Und manchmal kommen die Menschen dann mit einem oder mehreren Exemplaren an den Tresen im Zentrum. „Kann ich hier mal reinhören?“ Klar! Einige verbringen hier zwei oder drei Stunden, andere nahezu den ganzen Tag. Manche wollen in Ruhe stöbern, manche wollen reden. Fachsimpeln, viel fachsimpeln.

Seit 1981 gibt es die Plattenrille schon. 2019 haben die beiden Gründer Paul Löffler und Herbert Sembritzki nach 38 Jahren und zwei kleineren Umzügen innerhalb des Grindelviertels ihren Laden übergeben. Seit 2019 gehört diese Institution für gebrauchtes Vinyl und Musikkultur jetzt den drei musikalischen Überzeugungstätern Sebastian Prinz, Robert Hütteroth und Christopher Zielske. Verändert haben sie seitdem eher Kleinigkeiten. Und das aus gutem Grund: „Wir haben eine sehr veränderungssensible Kundschaft. Man könnte sagen, es ist ein chaotisches System. Aber es ist eben extrem gut eingespielt.“
Neu ist, dass die Plattenrille jetzt auch bei Insta ist. Wer mal Bock darauf hat zu erahnen, wie das Stöbern in älterer Musik ist, kann sich ja mal auf Spotify oder Deezer durch die Alben hören, die die drei via Insta empfehlen. Die meisten Menschen, die die Plattenrille aufsuchen, bleiben gern in ihrem jeweiligen Lieblingsgenre. Nicht alle sind komplett offen für alle musikalischen Richtungen. Christopher sieht es so:

„In jeder Sparte gibt es gute Musik! Das musste ich auch erst mal lernen.“ Im Gegensatz zu den spezialisierten Plattendealern ist die Plattenrille einer der wenigen echten Vollsortimenter. Und dieser Begriff ist wirklich der einzige während unseres ganzen Gesprächs, der etwas klassische Unternehmersprache vermittelt. „Bei uns ist jeder willkommen!“

In der Plattenrille gibt es keinen Masterplan. Aber jeder hat sein bevorzugtes Thema: Sebastian ist erster Ansprechpartner für Klassik, Robert kümmert sich unter anderem um Hip-Hop, Christopher eher um Electronic, Disco, Soul und Funk. Rock, Pop oder auch Jazz haben natürlich alle drauf.
Größte Kundengruppe sind seit jeher sicherlich die bereits erwähnten veränderungssensiblen Männer jenseits der 40. Heute können viele sich Platten leisten, die sie sich früher nicht kaufen konnten. Oder sie haben ihre Platten in den 90ern zugunsten einer CD-Sammlung ausgetauscht – nur um sich heute eines Besseren zu besinnen. „Die Leute kaufen einfach gern das, was sie als junge Menschen gehört haben. In dem Alter wird das noch anders abgespeichert“, sagt Robert.

Aber die klassische Kundschaft verändert sich, wird jünger und weiblicher. Wenn mal wieder im Kino, auf Netflix oder Artes „Tracks“ Bands thematisiert werden, kommen plötzlich auffällig jüngere Menschen ins Geschäft. Wie zuletzt für Kate Bush, deren Song „Running Up That Hill“ durch die neue Staffel „Stranger Things“ unerwartet gepusht wurde. Bei Jüngeren geht es öfter um Beratung, den Älteren geht es eher ums Gespräch und den Austausch. Und bei einigen ist es nicht immer Ziel des Spiels, irgendetwas zu verkaufen. Die haben schon fast alles. Aber auch das gehört dazu und ist okay.

So romantisch, friedlich und geradezu besinnlich es rund um den runden Tresen zugeht: Allein von Shop und den Stammkunden aus dem Viertel, Hamburg und Deutschland kann die Plattenrille vielleicht nicht ganz existieren. Und so wird zumindest punk­tuell die Kundenansprache online erweitert. Via Discogs erreichen Sebastian, Robert und Christopher nicht nur ein deutsches oder euro­päisches, sondern ein weltweites Publikum. Auch in den USA und in Japan wird Vinyl aus der Plattenrille im Grindel gekauft. Sebastian erklärt aber gleich: „Im Zweifel verkaufe ich jede Platte lieber hier am Tresen. Ich möchte so wenig Zeit wie möglich am Schreibtisch verbringen. Wir alle möchten mit dem Tonträger arbeiten und mit den Kunden reden. Bevor ich eine Datenbank pflege, versuche ich mir lieber zu merken, welcher Kunde was möchte.“

Und das ist gar nicht so einfach. Rund 200.000 Platten stehen in den deckenhohen Regalen an den Wänden und in den Regalboxen. Sortiert erst nach Genre und dann alphabetisch. Bei der Übernahme hatten sie eher Sorge, dass sie keine Platten mehr angeboten bekommen. Aber da haben sie sich glücklicherweise getäuscht. Robert bringt es ganz gut auf den Punkt: „95 Prozent der Ware hier ist älter als 30 Jahre. Aber trotzdem gibt es so viel Nachfrage, dass wir drei und unsere Angestellten mehr oder weniger davon leben können. Das ist schon krass!“ Und zwischendurch gibt es bei den Ankäufen immer wieder Perlen aus den verschiedensten Genres und Jahrzehnten. Manche sind so teuer, dass sie nicht in den Regalen oder Boxen landen. Wie „True Blue“ von Tina Brooks, Blue Note Records.

Die drei haben ihr Hobby zum Beruf gemacht. Niemand geht von der Schule und sagt, ich werde Plattenhändler. Alle haben was studiert, in einem Musikvertrieb gearbeitet, waren Stammkunden bei den ersten Eigentümern, haben in der Plattenrille gejobbt. Letztlich ist der Laden das verbindende Element. Nicht nur für die drei. Hier entstehen Freundschaften, die deutlich über das Thema Musik hinausweisen.
Gibt es etwas, dass ihr euch für die Zukunft der Plattenrille wünscht? Alle sind sich einig: „Künftig sollen wieder regelmäßig Veranstaltungen stattfinden: Lesungen, Konzerte, DJ-Sets. Das ist etwas, was wir während der Pandemie sehr vermisst haben.“

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