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Kings & Queens

SHOW

Text: Walter Schütz | Fotos: Julia Schwendner

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Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 61

Hier brennt die Luft. Und nicht nur die. Hier brennt, ganz passend zum Namen des Theaters, die Lunte – und zwar von beiden Seiten. Und das ist jetzt gar nicht mal anzüglich gemeint. Oder vielleicht doch, das lassen wir mal offen. Hochexplosiv ist es allemal, was die Künstlerinnen hier auf die Bühne zaubern. Diese Funken schlagende, fulminante Mischung aus Queer und Akrobatik, aus echtem Gesang und Playback mit Showeinlagen, aus Mann und Frau, aus Sex und plattem Schenkelklopfer, das ist – und das wohl nicht nur auf dem Hamburger Kiez – ziemlich einmalig.

Ob eine Show nun den Titel „Urban Jungle“ oder einen weniger exotischen trägt, es ist in jedem Fall eine Reise in eine andere Welt, auf die man sich mit dem Eintreten in das Pulverfass begibt. In dieses auffällig-unauffällige Varieté-Theater auf dem Kiez, das sich pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum ein ganzes Stück weit neu erfunden hat. Es erscheint einem vollkommen natürlich platziert, dort wo es ist, auf der Reeperbahn. Gegründet wurde es 1973 allerdings ganz woanders: am Pulverteich im Stadtteil St. Georg. Und zwar von einem Mann, dessen Name in queeren Kreisen schon fast den Klang einer Legende hat: Heinz-Diego Leers. Vorher Einzelhandelskaufmann, Leiter zweier Supermärkte in Bramfeld, verheirateter Mann und Vater einer Tochter, drehte er plötzlich alles auf links und trat aus seinem geregelten Leben heraus wie aus einer falschen Rolle: Er stand zu seiner Liebe zu Männern, übernahm das Striptease-Lokal „Pulverfass“ seines Vaters und gründete darin unter gleichem Namen das Travestietheater. Na ja, also eigentlich eröffnete er eine Diskothek. Doch als die Travestie-Einlage, die er zur Eröffnung seiner Disco gebucht hatte, so sensationell großen Anklang fand, blieb er einfach dabei. Von da ab machte er, was er wollte, nein, was er liebte: Er brachte langbeinige Diven in glitzernden Kostümen und verrückten Fummeln auf die Bühne, die mit ihrem Auftreten, mit ihrem Tanz und Gesang alle Grenzen pulverisierten und für offene Kinnladen und tosende Beifallsstürme sorgten.

47 Jahre, zahlreiche Promibesuche, einige große Entdeckungen und zahllose Eifersuchtsszenen im Publikum später war für ihn Schluss. Der selbst gekrönte König der Travestie dankte nach einer Lungenembolie ab und suchte lange anderthalb Jahre nach passenden Nachfolgern für sein legendäres Drag-Cabaret. Interessenten und Ideen gab’s genug, Jazzclub hier, Bordell da, aber nein: Das Pulverfass sollte nach seinem Willen unbedingt ein Travestie-Cabaret bleiben. Schließlich fanden sich die richtigen zwei jungen Männer, Hendrik Kupfernagel und Max Protsch, mitnichten bis dahin Stammgäste des Ladens, wie fälschlicherweise oft erzählt wird. Viel besser: Der eine davon, Hendrik, unterstützte Heinz-Diego in steuerlichen Fragen, da dessen Steuerberater mittlerweile zu alt war für neue Dinge wie Überbrückungsgeld und Co. sowie beim Verkauf des Pulverfasses.

Das tat er dann letzten Endes irgendwie auch, denn er selbst fing Feuer fürs Pulverfass, und mit etwas Überzeugungsarbeit gelang es ihm, seinen Lebenspartner Max anzustecken, sodass sie gemeinsam den Laden übernahmen. Ein letzter großer Glücksgriff für Heinz-Diego, der – noch bevor er begleitet von Hamburger Größen und Kiezlegenden wie „Kalle“ Schwensen seine letzte Reise antrat – eigenhändig den Verkauf verhandelte und den beiden seinen Segen gab.

Höchstpersönlich vom ehemaligen König des Pulverfasses inthronisiert, packten die neuen Herren nun den Umbau an und machten vieles, was Heinz-Diego längst hätte machen müssen. Mit Max’ Designanspruch und massiven finanziellen Einbußen durch Corona nicht gerade ein leichtes Unterfangen. Doch mit viel Herzblut und Ideen wie einer Crowdfunding-Aktion gelang es den beiden, die heikle Anfangsphase zu überstehen und den Umbau zu finanzieren: Schönere Teppiche und Vorhänge, moderne Technik, besseres Licht und DJ-Pult sowie die im neuen Glanz erstrahlende, auch von außen durch die breite Fensterfront zu bewundernde Bar erschaffen seitdem ein ganz eigenes Pulverfass-Gefühl. Das ehemalige Kino Oase auf der Reeperbahn, seit 22 Jahren ihre Heimat, ist kaum noch wiederzuerkennen.

Auch die Shows haben eine andere Richtung bekommen, nicht zuletzt durch den Einstieg des dritten Neuen im Bunde, Thomas Birkhahn. Der Musicalproduzent, Buchautor und Personalentwickler ist nun neben dem künstlerischen Leiter Max für das Management und die Stückplanung verantwortlich, und damit auch mit für so spektakuläre Inszenierungen wie „Urban Jungle“. Dafür wird dann die Kernbesetzung aus vier, fünf Künstlern auf bis zu zwölf aufgebauscht: Ortsansässige Stars wie Bodybuilderin Hellen Pietris, die das Theater seit 20 Jahren mitprägt, oder Onkeltante Daisy Ray, die seit 15 Jahren zum Ensemble gehört und von diversen Korn beschwingt elegant durch den Dschungel-Abend moderiert, werden durch brasilianische Tänzerinnen und Showstars verstärkt. Spätestens dann ist es pures Augenpulver, wenn der Dschungel mit seinen schillerndsten Wesen die Stadt zurückerobert: Karneval-von-Rio-mäßige Paradiesvogel-Kostüme werden von Szenestars wie Melissa Alonso und Suzan Furtado über die Bühne und durch das Publikum des Pulverfasses spazieren getanzt, ehe sie gekonnt sexy, Feder für Feder, im Takt der Musik auf der Bühne wieder abgelegt werden. Die Spinne, der von Kopf bis Fuß tätowierte, feuerschluckende queere Poledancer Quentin Dée, der fast ebenso gut beim Cirque du Soleil auftreten könnte, wirbelt in nicht viel mehr als Plateau-Highheels um die Stange wie ein Derwisch. Der incredible Sebastién trällert mit einem zarten Vogelkehlchen, das ihm sogar schon eine Top-Ten-Platzierung beim französischen „Supertalent“ beschert hat. Das Publikum klatscht Beifall im Takt der LED-beleuchteten Schmetterlingsflügel.

Eve Champagne, Eva Detox, Renata Granada, Apollo, Orlando Portuondo, Tronicat la Miez, Gisela Kloppke – die Stars der Szene geben sich die Klinke der Garderobentüre des Pulverfasses in die Hand, die man mittlerweile durch geschickte Umbauten zu einem familiären Ort der Zusammenkunft und nicht der Abschottung gemacht hat.

Ein weiteres Beispiel für das ganz besondere Fingerspitzengefühl, das das neue Dreigestirn an der Spitze des Pulverfasses ebenso besitzt, wie Heinz-Diego es tat. Und das heute ebenso wichtig ist, wie es früher war. Denn am grundsätzlich etwas Drama-lastigen Umgang mit Diven hat sich in den letzten 50 Jahren wenig geändert, wie Thomas Birkhahn seelenruhig erklärt. Da kracht es heute genauso in der Maske und der Garderobe, wie es das vor 50 Jahren tat. Kein Problem für ihn, der weiß, was zur Deeskalation zu tun ist: Der Schlüssel ist Zuhören, wo der Schuh drückt. In einem Mikrokosmos wie diesem, in dem die Kunst auch darin besteht, so viele extreme Egos unter einen Hut zu kriegen, funktionieren nur Einfühlsamkeit, Familiensinn und manchmal eine dicke Haut gegen Stutenbissigkeit.

Pünktlich zum 50sten Geburtstag von Euro­pas größtem Travestietheater hat sich das Haus auch für neue Dinge geöffnet. Als Miet-Partylocation, als Bühne für andere Shows: An den spielfreien Dienstagen und Mittwochen etwa spielt bis Dezember das Musical „Glücklich in 90 Minuten“ auf der Heb-, Schieb- und Senkbühne. Ebenso pünktlich hat auch so manche loka­le Größe ihre Glückwünsche an die Hamburger Institution übermittelt: von Udo bis hin zum Oberbürgermeister Tschentscher, der ebenfalls verstanden hat, dass die Hansestadt kaum irgendwo so frei ist wie in den Wänden des
Pulverfasses. Insofern: Feel free to come!

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