Regional? Wert!
REGIONALWERT AG HAMBURG
Text: Till Briegleb | Fotos: Uta Gleiser
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 52
Wenn Kühe auf der Weide stehen, Namen tragen wie Beavis und Butthead, Capri-Sonne oder Elisabeth Schottpeter, ja manches Tier sogar ankommt, wenn es so gerufen wird, dann ist man sicher nicht bei Clemens Tönnies’ Schlachtfabriken zu Besuch. Auf dem Waldhof von Elena und Nils Zydek in Hüsby kriegen allerdings auch nur die Milchkühe einen Namen, denn Tiere mit Persönlichkeit umzubringen, das fällt eben schwer. Die Mastochsen im Stall und die Kälber in ihren Aufzuchtgattern haben keine, denn aus ihnen wird einmal Fleisch. Aber bis der örtliche Schlachter sie dazu macht, kann deren Leben auf dem Biohof dieses lustigen Bauernpaares wenigstens als ein solches bezeichnet werden. Tierwohl ist in der fünfköpfigen Familie mit drei kleinen Kindern keine gesetzliche Vorschrift, an die man sich zähneknirschend hält, obwohl sie den Profit schmälert, sondern gelebte Empathie. Da fließen dann auch mal Tränen, wenn Elisabeth Schottpeter wegen einer chronischen
Euterkrankheit eingeschläfert wird.
Fährt man von Hamburg übers Land bis hier hinauf zum Welterbe Danewerk, dem Limes der Wikinger aus dem Mittelalter, auf dessen Nordseite der Waldhof liegt, dann fällt etwas eklatant auf: dass in Schleswig-Holstein sonst kein Vieh mehr zu sehen ist, obwohl in dem sehr grünen Bundesland 4000 Milcherzeuger täglich acht Millionen Liter aus den Kühen holen. Wo die stehen und wie sie behandelt werden, darüber will der Konsument am Kühlregal lieber nichts wissen. Die Zydeks wissen es. Deshalb fressen ihre fidelen Viecher frisches Gras auf zwölf Weiden mit Namen wie Feldschlösschen, Autostrada, Polnisches Haus. So steht es auf einer Tafel im Stall, der das Gegenteil von den neonhellen Elektropferchen der Massentierhaltung ist. Und zwar so weit das Gegenteil, dass er die eine oder andere Investition durchaus gebrauchen könnte.
Elena und Nils Zydek wurde der stark heruntergekommene Hof vor vier Jahren beim Tanken von einem alteingesessenen Bauern angeboten, und obwohl sie sich nach eindringlicher Inspektion des Betriebs selbst für verrückt erklärten, hatten sie einfach Bock darauf, einen eigenen Hof zu haben und den nach ihren Vorstellungen umzumodeln. Die etwas ruinöse Bilderbuchromantik von Rindern, Schafen und Hühnern zwischen Mist, Rost, Dachschäden, löchrigen Fassaden und brüchigem Beton war kein Hinderungsgrund für diese Landwirte aus Leidenschaft. Sie wollten den konventionellen Bauernhof in einen unkonventionellen Bio-Betrieb überführen. Aber für Reparaturen, Erneuerungen und die Anschaffung arbeitserleichternder Maschinen fehlte dann leider oft das Geld.
Und deswegen wurde Zydeks Waldhof bald Teil der Regionalwert AG.
Diese Aktiengesellschaft unterstützt und vernetzt ökologisch arbeitende Betriebe der Lebensmittelsparte in mittlerweile sechs Regionen Deutschlands. Sie finanziert Investitionen in die nachhaltige Landwirtschaft, in Lebensmittelverarbeitung und -verkauf in der Metropolregion Hamburg. Der Einsatz des Kapitals, das durch Aktienverkauf gesammelt wird (in der Nord-AG sind es aktuell rund 3,7 Millionen Euro von 1500 Anteilseignern), erwirtschaftet für die Aktionäre aber nur Gewissensdividende.
Aller finanzieller Gewinn, der durch Investitionen der AG in die Produktivität ihrer Betriebe möglich sein kann, wird reinvestiert, um das Netzwerk zu stärken und weiter auszubauen. Die Geldgeber erhalten für ihren Einsatz als Return nur die Genugtuung, etwas wirklich Sinnvolles gegen den entsetzlichen Regelbetrieb der Agrarindustrie und seine dramatischen globalen Umweltfolgen zu unternehmen – indem sie eine regionale Nahrungskette etablieren, wo am Ende nicht der Profit zählt, sondern die Gesundheit von Mensch und Natur. Deswegen kauft man diese Aktien auch nicht zur Altersvorsorge, sondern aus Altruismus und Anteilnahme an einem Projekt, das Alternativen aufzeigt.
„Agrarwende selber machen – vom Acker bis zum Teller“ lautet das Motto dieser Organisation. Wobei die 2006 erstmals in Freiburg und 2014 in Hamburg gegründete Regionalwert AG keine Lobby-Organisation ist. Anstatt sich die Zähne auszubeißen an einer bayerischen Agrarindustrieministerin und ihrer Politik, Subventionen nur dorthin zu leiten, wo sie die größte Umweltzerstörung garantieren, fördert sie Vorbild. Und zwar eins, das zeigt, warum regional produzierte Lebensmittel in allen Belangen der Industrieproduktion überlegen sind – außer im Profit. Aber es geht eben auch ohne.
„Ich brauche keinen Porsche“, sagte etwa Tobias Carstens auf die Frage nach den persönlichen Zielen. Der von allen nur Tobi genannte Chef von Carstens Highlands in Hamdorf hatte 2005 noch während seiner Ausbildung mit dem Halten von Galloway-Rindern als Hobby begonnen. Inzwischen leitet er einen Hof mit 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie 600 schottischen Rindern auf 600 Hektar naturbelassenem Land. Auf dem stehen die putzigen Riesenzottel das ganze Jahr, was nicht nur ihnen guttut, sondern auch der natürlichen Moorlandschaft zwischen Rendsburg und Heide.
Ihre Fladen düngen den Boden und sind gleichzeitig auch Brutkästen für Insekten, die wiederum die Nahrungsketten der Natur in Schwung bringen und den Vogelbestand erhöhen. Und die Kühe bleiben in ihrer natürlichen Umgebung mit dem gleichen schlechten Wetter wie in Schottland schön gesund. Deshalb finden sich im Steak, das Tobi Carstens nur auf Wochenmärkten und in der Gastronomie selbst vermarktet, auch keine Antibiotika-Rückstände wie in Supermarkt-Koteletts aus der industriellen Fleischerei, deren Produktionsorte Tobi rundheraus „Tier-KZs“ nennt.
Der Hof, den der Selfmade-Mann 2018 schließlich übernahm, sah vorher allerdings auch nicht viel besser aus. Bewegungsunfähige Tiere in Gatter gezwängt unter elektrischen Drähten zeigten dem engagierten Jungbauern die brutale Realität einer Landwirtschaft, die vom Verlangen großer Supermarktketten nach Niedrigstpreisen erzwungen wird. Wobei diese Preise nur deswegen so niedrig sein können, wie Ulf Schönheim, einer von drei Vorständen der Regionalwert AG trocken bemerkt, weil die Lebensmittelindustrie die Folgekosten ihrer Arbeitsweise an die Gemeinschaft delegiert.
Den gigantischen ökologischen Reparaturbedarf, den Brandrodungen für den Futtermittelanbau, Düngemittel in Grundwasser und Meeren oder das ausgerülpste Methan von einer Milliarde Rinder erzeugen, zahlt der Staat mit Steuermitteln. Diese Kosten müssten fairerweise eingepreist werden in die „Sonderangebote“ der Discounternahrung, sagt Schönheim. Aber dann wäre Rind zwischen Plastik und Styropor verpackt tatsächlich deutlich teurer als jede Bio-Ware vom Tresen, die solche Schäden gar nicht erst verursacht – und außerdem noch schmeckt.
Genau durch diesen Aspekt kam Thomas Sampl zur ökologischen Wende. Der langjährige Koch des feinen Restaurants „VLET“ in der Speicherstadt fand vor rund 13 Jahren den Unterschied von Markt- und Großhandelsfleisch so dermaßen happig, dass er begann, mit Biobauern zu reden und so der Sache auf den Grund zu gehen. Vor drei Jahren gründete er dann zusammen mit der Regionalwert AG eine Markthalle für Bioprodukte mit Restaurant, die „Hobenköök“ im Oberhafenquartier. Dieses Schlaraffenland für lecker und gut war bis zum Coronaeinbruch ein solcher Megaerfolg beim Publikum, dass es die Panik vor den Folgen konzernhöriger Agrarpolitik wieder sacht milde stimmen könnte.
Sampl hat dann rasch und intensiv dazugelernt, was die Vor- und Nachgeschichte des Essens betrifft. Und deswegen versammelt er in der ehemaligen Lagerhalle in dem Kreativquartier der Hafencity nicht nur ein korrektes Sortiment norddeutscher und saisonaler Produkte, bei dem man alles mal probieren möchte (außer man ist Veganer, dann nur den größten Teil). Sondern er hat in seiner Hafenküche auch ein Veranstaltungsformat etabliert, in dem er mit Landwirten und bald auch mit Wissenschaftlern fundiert aufklärt über die wirklichen Kosten von gutem und schlechtem Essen. Damit später niemand mehr behaupten kann, Bioprodukte seien teurer als andere.
Aber auch die globalen Transportwege von Waren, die wir wie selbstverständlich als heimisch betrachten, weil es sie im Supermarkt um die Ecke gibt, sind weder gut für den Geschmack noch fürs Klima. Will man etwa ein in Norddeutschland nie heimisch gewesenes Produkt wie den Käse genießen, kann man entweder zu unausgereift eingepackten oder mit Geschmacksverstärkern geschändeten Produkten aus fernen Ländern greifen. Oder es braucht eben jemand wie Markus Kober, der seit 25 Jahren daran tüftelt, wie in der Käsewüste Norddeutschlands eine fruchtbare Tradition für Spitzenkäse gestiftet werden kann. Mit lokalen Zulieferern und Zutaten hat der sympathische Geschmackstüftler inzwischen 140 Sorten Käsedelikatessen in einem Land erfunden, das bisher nur den Tilsiter kannte – und das auch erst seit ihn die Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs aus Osteuropa dorthin gebracht haben.
Doch mittlerweile werden in dem zügig wachsenden Betrieb, der mit 13 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Kober-Käse für ausgewählte Gastronomien und Theken produziert, alle Wünsche an eine vielfältige Gourmetplatte erfüllt. Hart- und Weich-, Ziegen- und Rohmilch-, Schimmel- und Schnittkäse, ja sogar Tilsiter affiniert Kober aus Käserohlingen, die er hauptsächlich von norddeutschen Hofmeiereien erhält. Der Schmier-, Würz- und Reifeprozess, für den erstaunlich viel Bier, aber auch Rosen, Obst, lokale Kräutermischungen, Schnaps und Algen verwendet werden, findet neue Meisterschaft in den Kühlräumen einer denkmalgeschützten Kaserne in Itzehoe.
Wer braucht da noch Käse aus Frankreich? Wo die sowieso ihren guten Käse für sich behalten und uns nur die B-Klasse schicken, wie Thomas Sampl süffisant bemerkt. Tatsächlich zeigt das Erfolgsprojekt der Regionalwert AG und die dadurch gewachsene, gegenseitige Bestärkung und Befeuerung ihrer Mitglieder, dass Delikatessen wie Dinge des täglichen Gebrauchs inzwischen fast vollständig aus dem lokalen Umfeld stammen können – was dem Genuss wie der Umwelt dient. Nur für guten Wein braucht es leider noch ein etwas wärmeres Klima im Norden. Aber dafür sorgen ja bestimmt bald die großen Agrarkonzerne mit ihrer verheerenden CO2-Bilanz.