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Porträt –

Hansa-Theater

 

 

AUTORIN: SVENJA HIRSCH 

FOTOS: RENÉ SUPPER

Fünf fette Leuchtbuchstaben. HANSA. Der Haupteingang, wie das Tor von der Unterwelt zum Varieté-Himmel. Drumherum der Steindamm: Dreck, Betrunkene, Koksnutten und andere ominöse Gestalten. Müssen wir da wirklich durch? Heute nicht. Wer im Hansa-Theater hinter die Bühne darf, der nimmt den Eingang in der Nebenstraße. Angekommen in einem Stück Theatergeschichte, das 1893 begann. Mit Alkohol. Genauer: mit Brauerei-besitzer Paul Wilhelm Grell, der den Hansa-Concert-Saal kaufte, um sein Bier besser an den Mann zu bringen. Weltstars des Varietés wie Freddy Quinn, Comedian Harmonists, Siegfried und Roy standen hier auf den Brettern.

 

Erhabenes Gefühl beim Eintritt in den Aufenthaltsraum, wo sonst nur Artisten, Musiker und die Orga-Crew sitzen. Ein zusammmengeschweißtes Team mit dem Flair eines Familienurlaubs: Mal spielen zwei Schach, mal sind Mama und Papa mit am Tisch, erzählen, wie „der Junge“ zum Varieté kam. Auf der Anrichte Kekse, von den Technikern gebackener Kuchen, Kaffee, mit Glück selbstgemachter Ingwertee von Regisseur Thomas. Am Spiegel baumelt ein kleiner St.-Pauli-Anhänger, die Heizung in der Kabine der Pole-Dancerin Anna de Carvalho aus Finnland ist voll aufgedreht. Die eben gemachten Dehnungen sollen vor dem Auftritt nicht verloren gehen. Die Wärmflasche sei ihr „best friend“, sagt sie. Freunde aus Fleisch und Blut hingegen trifft man nicht in der Heimatstadt, sondern auf Shows in der ganzen Welt. Diese Welt, sie ist genauso groß und bunt wie sie klein und heimelig sein kann. „2009 bis 2012 lebte ich in London, seit ich um die Welt toure, habe ich keinen festen Wohnsitz mehr“, erzählt Anna in feinstem Englisch. So geht das. Die Show ist der Wohnsitz auf Zeit, das temporäre Zuhause. Zurück im Aufenthaltsraum, Regisseur Thomas steckt den Kopf durch die Tür: „Noch 15 Minuten!“ – „Schön, dass das hier noch manuell ist“, kommentiert Günter Märtens, der mit seinen 2,06 m kaum durch die Tür passt. Der Mann spielt Bass bei den Hansa-Boys, die jede Show eröffnen. Und er spielt bei den Rhythmus Boys von Ulrich Tukur. Boys, boys, boys quasi.

 

Von Duschmarken zur Herzlichkeit
Wenn man so will, fing mit Ulrich Tukur das Einläuten der Hansa-Neuzeit an. Zwischendurch ist viel passiert: 1943 wird das Hansa im Bombenhagel komplett zerstört. Ein schweres Los für Kurt Grell, Sohnemann, der zu diesem Zeitpunkt das Hansa bereits übernommen hatte. Aber nicht unlösbar. Die Stallungen und Teile des alten Fo­yers werden zum Theater umfunktioniert, 1953 dann mit Showbühne und Restaurant. Doch 2001 fällt erneut der Vorhang. Dass es nicht der letzte ist, ahnte keiner. Tukur brachte die beiden Männer zusammen, die das Varieté 2009 wieder zum Leben erweckten: Auftritt Thomas Collien und Ulrich Waller. Dem ersten gehört das St. Pauli Theater, der zweite stand als Regisseur und Drehbuchautor genau dort vor der Tür. Klopf, klopf! „Ulli wollte mit Tukur ,Blaubarts Orchester‘ bei uns rausbringen“, erzählt Collien, „aber die beiden waren mir irgendwie suspekt“, sagt er, guckt Waller an und lacht. „Corny Littmann am Schmidt sagte zu.
Die Show wurde ein großer Erfolg – was uns natürlich geärgert hat“, fügt er hinzu. Da ist ihm mal etwas entgangen, dem Collien, der über seine Konzert & Theater GmbH bunte Shows durch die Welt schickt und sonst einen guten Riecher hat. Eben drum wurde Waller 2003 zum künstlerischen Leiter of St. Pauli Theater und das Hansa hoffentlich nicht der Freundschaft letzter Schluss. Als beide die bis dahin eingemotteten Räume betraten, wussten sie: Da geht was! Von der Familie Grell unterstützt, wurde der Betrieb wiederbelebt. Einiges hat sich seitdem verändert: „Früher ging es hier doch etwas strenger zu“, erzählt Collien. Die Künstler durften den Vorhang nicht berühren, es gab Duschmarken für 25 Sekun­den Warmwasser. Ein Umgang, weshalb es anfangs einige Artisten ablehnten, hier aufzutreten. Das Fami­liäre, so Collien, sei aber nicht nur ihr Werk, sondern das des ganzen Teams:
„Wir sind nur die Familienoberhäupter.“

Dort, wo alles begann
Die Familie, das sind die Hansa-Crew und Künstler, die hier richtig umsorgt werden: von der Einladung bis hin zur Buchung des Appartements und der Krankenkasse. Im Hansa mehr als anderswo. So sieht es auch Puppenspieler Alex, der sonst mit seiner Marionette Barti und den anderen Künstlern in eine Kabine gequetscht wird. Am Hansa kann er in seiner Stube alle Werkzeuge über die ganze Spiegelfront ausbreiten. Während Barti fiese Grimassen schneidet, erzählt der große, ruhige Mann aus Mazedonien, wie er als junger Typ durch Europa reiste, dort die Straßenspieler mit ihren Marionetten entdeckte. „Ich dachte, das kann ich besser“, sagt er. Barti, der freche Pianist, der seine Popel während der Nummer auch mal an der Hose seines Machers abwischt, ist steuerbar durch einen selbstgebauten Joystick, in dem keinerlei Elektronik steckt. Nach der Spielzeit geht Alex mit seiner Familie für ein Jahr nach Spanien. Sein Sohn kommt in den Kindergarten. Und dann? Mal sehen, was kommt.


Ähnlich bei Jongleur Claudius Specht aus Basel. Ein paar Gespräche laufen, fest steht noch nichts. „Es gab Zeiten, in denen ich elf Monate im Jahr unterwegs war. Über eine lange Zeit hinweg.“ Dabei ist er kein klassisches Artistenkind, sondern ein Quereinsteiger: war früher im Kinderzirkus, machte dann eine Ausbildung als Maschinenbauer. Aber er hatte Gefallen gefunden an der Thea­terwelt, wurde durchgereicht. Sein erstes Engagement beim Zirkus Flic Flac in Deutschland: „Varietés gab es damals kaum“, erzählt er, während er sich mit wirbelnden Jonglierkeulen hinter der Bühne aufwärmt. Thomas bittet um etwas mehr Ruhe, wir beginnen zu flüstern. Die kleine Box, die ihm hinterherfährt und ihm Keulen oder Trichter zuwirft, sei das Ergebnis von jetzigem und altem Beruf. Er hat sie gebaut, kann sie während des Auftritts fernsteuern. Wie er das macht, sei an dieser Stelle nicht gesagt: Jedem Künstler sein Geheimnis! Für ihn ist das Hansa „… eine Perle. Wer hier schon aufgetreten ist, das sagt alles!“ Siegfried und Roy kamen als die ruhmreichsten Stars von Welt ein zweites Mal, nachdem Waller und Collien ihnen einen Brief schrieben, „dass es doch toll wäre, wenn sie noch einmal dahin zurückkehren, wo alles begann“. Als die zwei tatsächlich in der Tür standen, diesen Augenblick wird Ulrich Waller nie vergessen. „Das war ein wirklich magischer Moment“, sagt er. „Es macht einen immer wieder glücklich, all diese tollen Leute hierherbekommen zu haben.“ Die Leute, die nach dem Auftritt gern noch gemeinsam unterwegs sind, den Aufenthalts-raum gegen die pinke Barszene in der Lange Reihe eintauschen. Ein Glas Wein nach dem Auftritt. „And a bottle on Sunday“, sagt Anna und lächelt selig, bevor sie die Abendaufführung mit ihrem anmutigen Pole-Dance eröffnet. Und wir nehmen Abschied von einer für uns so anderen Lebenswelt, müssen zurück in die eigene, ab auf die roten Plätze vor der Bühne, mit den Häppchen vom Hansa-Teller auf goldbezäunten Tischen. Nach dem letzten Applaus kurbelt Hausmeister Heinrich den Vorhang zu. Manuell eben. Ganz nach Märtens Geschmack.

Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 33

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