Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 39
Wir Hamburger haben mehr Glück als viele andere Menschen. Zum Beispiel müssen wir nicht in Gelsenkirchen leben. Und wir müssen nicht von Hamburg träumen und von weit her anreisen, um kurz anzuschauen, was mit der Sehnsucht nach der Ferne verknüpft ist wie die Gebrüder Wolf mit dem Tüdelband: die Landungsbrücken. Nein, wir können dort sein, jeden Tag. Egal ob es Dienstag ist oder der Wind sehr stark weht, ob wir traurig sind oder einfach mal rausmüssen aus der Büroluft – dieser Ort, dieser viel besungene, postkartenidyllengleiche Ort, an dem die Schiffe an- und ablegen, von dem aus ihr Tuten die Luft durchdringt, wo die Möwen kreisen und kreischen und es immer, ja wirklich immer Fischbrötchen gibt, ist verlässlich vorhanden.
Es ist der Ort der Sehnsucht und des Trostes wie kaum ein anderer in dieser Stadt, denn wenn man Hamburg in seiner Historie als Hafenstadt begreift, dann liegen Abschied und Ankommen nirgends so nahe beieinander wie hier. Die bequemste Art, das Glück zu genießen, dauert
drei Minuten und 41 Sekunden. Der Genuss beginnt in dem Moment, in dem die U-Bahn der Linie U3 nach der Haltestelle St. Pauli aus dem Tunnel ins Licht fährt und zur Rechten die ersten Bilder des Hafens freigibt. Es ist der Blick auf den alten, sandsteinfarbenen Schiffsbahnhof mit seinem hohen Turm und den grünen Kuppeldächern, auf den alten Elbtunnel und die Docks von Blohm+Voss im Hintergrund. Es sind nur
wenige Sekunden, dann hält die U-Bahn im Bahnhof Landungsbrücken, und wenn man im Zug nicht allzu weit hinten und auf der rechten Seite sitzt, blickt man jetzt aus erhabener Höhe auf das, was dieses Stück des Hafens ausmacht: die Pontonanlage für den Schiffs- und Fährbetrieb.
Man sieht die Brücken, die von der Promenade auf die Pontons führen, man sieht die Pommes- und Souvenirbuden davor und die Schiffe, die die Elbe hinauf- und hinunterfahren. Man sieht die Rickmer Rickmers,
das alte Frachtsegelschiff mit seinen drei Masten, wie es grün und groß am Kai liegt, und gegenüber, auf der anderen Elbseite, erinnert die Architektur der beiden Musicalhäuser daran, dass es auch so etwas wie Moderne gibt. Fährt die U3 weiter, über die Station Baumwall, bevor die Hafenbetrachtung im Knick zum Rödingsmarkt ihr Ende findet, bleibt der Blick an dem riesigen Stückgutfrachter Cap San Diego und seiner Einladung zum Besuch hängen, am kleinen Jachthafen und den ersten Gebäuden der Speicherstadt, in deren Hintergrund die Elbphilharmonie prangt. Macht man diese Fahrt bei gutem Wetter und zu früher Stunde, vielleicht morgens um sieben, kann es sein, dass die Sonne, hinter der
Speicherstadt aufsteigend, die Szenerie zwischen Glutorange und Rosa ausleuchtet.
Genau genommen sind die Landungsbrücken heute ein Fake.
Aus der Ferne anlanden tut hier nahezu keiner mehr. Und ablegen auch nicht. 2002 wurde der Fährverkehr zwischen Hamburg und dem englischen Harwich eingestellt, seither gibt es kaum noch große Abschiedsszenen, auch finden sich keine Menschenmengen mehr ein, die Ankommenden von ihrer Reise in Empfang zu nehmen. Die Kreuzfahrtschiffe machen in Altona oder weiter elbabwärts fest, und auch die Marine und die Segelschulschiffe, die früher Matrosen in eleganten Uniformen in großer Zahl an Land brachten, bleiben aus. Allenfalls der Katamaran nach Helgoland legt noch regelmäßig von hier aus ab. Es sind heute vor allem die Schiffe der Hafenrundfahrten und die Fähren des HVV, die festmachen. Und selbst wenn es vor allem Touristen sind, die die Promenade entlangschlendern, und nicht mehr sehr viele Hafenarbeiter, die die Fährverbindung der Linie 62 nutzen, bleiben die Landungsbrücken ein Sehnsuchtsort.
Es mag daran liegen, dass sich im Kern wenig verändert hat. Egal wie alt man als Hamburger oder Hamburgerin sein mag, die Landungsbrücken, in ihrer heutigenForm erbaut 1907, stehen in wohl jeder Kindheitserinnerung für das Versprechen, Schiffe zu sehen und ein Eis oder eine Brause zu bekommen. Noch heute geht es auf der einen Kilometer langen Hafenanlage um diese Kombination: Schiffe gucken, Fischbrötchen essen und sich das breite Hamburgerisch der Koberer mit ihrem stets laut rollenden R um die Ohren rauschen zu lassen, wenn sie zur „grrroßen Hafenrrrundfahrt“ rufen. Dabei tut man gut daran, den Charme im Kleinen zu suchen. Für eine Fahrt durch den Hafen eine der schönen alten Barkassen zu wählen. Sie heißen „Hans“ oder „Jette“,
und manchmal, wenn etwa bei Barkassen Ehlers die Schiffe hübsch beieinanderliegen, dann mutet es an wie ein Familienstammbaum. Dann liegen dort „Hiltrud“ und „Günter“, „Helga“ und „Hans“, „Birgit“ und „Thomas“. „Klaus“ fehlt. Der wurde verkauft und fährt jetzt in Berlin.
„Anita“, Tochter von „Klaus“, ist der dickste Pott. Eine Besonderheit ist „Jan“, erzählt der Ehlers-Mitarbeiter Lorenz. Lorenz, ein Mann Mitte 40, prüft die Tickets der Passagiere. In seinem früheren Leben war er Bestatter, jetzt sattelt er um, lernt Hafenschiffer und will Elbfährkapitän werden. Dazu gehört, die Historie zu kennen. „Die ,Jan‘ ist die letzte Postbarkasse, die noch fährt“, erzählt er. Postbarkassen fuhren zu den großen Schiffen raus, die im Hafen festgemacht hatten, und reichten mit einer Stange die Post für die Besatzung hoch. Und nahmen deren Briefe entgegen. Es ist nicht nur, dass bei den schönen alten Barkassen
Geschichte mitzufahren scheint, es ist auch ihre Unmittelbarkeit. Ihr Motor tuckert wohlig unter dem Hintern, und das Wasser ist zum Spritzen nah. Die großen Ausflugsboote mit ihren kühlen Fenstern und dem Charme einer DDR-Clubkantine sind allenfalls in Anwesenheit sehr betagter Damen entschuldigt, niemals, aber auch wirklich niemals ist es der Mississippi-Dampfer. Nicht einmal der Besuch von Schwaben entschuldigt eine Fahrt auf dieser kulturellen Verirrung.
Zwei Möglichkeiten, die lange Geheimtipps waren, stehen heute in jedem Tourismusführer: ein Trip mit der „Frau Hedi“, einem Partyboot für Leute mit gutem Musikgeschmack, und eine Fahrt mit der Fährlinie 62. Auf ihr schippert man mit einem Ticket des Verkehrsverbundes von Brücke 3 aus die Elbe nach Finkenwerder hinunter, vorbei an Sehenswürdigkeiten wie der Fischmarkthalle und dem Elbstrand. Das mag bei Sonne besonders einladend sein, ist aber umso schöner bei
Regen und Wind. Dann bleibt die hübsche Uferlinie zwar verborgen, dafür aber schlägt das Wasser von oben und unten gegen die Scheiben der Fähre, und das Schiff tanzt zwischen den verschiedensten Grautönen auf und ab, während man mollig warm im Fahrgastraum sitzt und seinen Kakao schlürft. Auch der Rückkehr zu den Landungsbrücken lässt sich etwas ganz Eigenes abgewinnen, wenn man das Bekannte vergisst und sich vorstellt, man führe nach langer Fahrt ein und die Stadt würde einen mit diesem Panorama begrüßen.
Es fällt schwer, nicht anzunehmen, willkommen zu sein.
Manchmal sind wir Hamburger ’n büschn blöd. Dann vergessen wir, was wir an den Landungsbrücken haben, und überlassen es den Touristen, sich von dem Charme und der Kraft dieses Ortes anstecken zu lassen. Dann landen wir in einer Filiale von „Nordsee“, anstatt in einer der wunderbar verschrabbelten Fischbrötchenbuden einzukehren, wo Brötchen nicht die Konsistenz von Zuckerwatte, sondern von Brötchen haben, echtes beigefarbenes Linoleum ausliegt und die Verkäuferin zu uns „Na, min Deern!“ sagt und aussieht, als würde sie Erna heißen. Dann stehen wir stundenlang in der Schlange vor dem Imbiss „Brücke 10“, um in weißem Interieur, auf weißen Fellen sitzend, mit Einmachgläsern mit Sand und Kerzen auf den Tischen uns beim Aperol Spritz wie auf Sylt oder Coney Island zu fühlen. Anstatt für dieses Gefühl nach Sylt oder Coney Island zu fahren und sich darauf zu besinnen, hier und heute
in Hamburg zu sein und in eines dieser wunderbar altmodischen Restaurants zu gehen, in denen man vielleicht schon mit der eigenen Oma war, und einen Teller mit Bratkartoffeln und Pannfisch serviert zu bekommen, den der Hamburger „reell“ nennen würde. Dann versäumen wir, hinzuhören und zu bemerken, welch unglaubliches Konzert hier ununterbrochen aufgeführt wird, wenn die Pontons gegen die Poller
dotzen, ihre eisernen Verbindungselemente knarzen und ächzen, wenn sie quietschen und die Wellen gegen alles schlagen, was im Wasser nichts zu suchen hat, und in der Ferne irgendein Barkassenführer irgend-
welche Dönkes erzählt, während Motoren brummen und eine Fähre tutet.
Dann vergessen wir, dass wir hier das finden, was wir so oft in der Ferne suchen. Das Stillen der Sehnsucht durch den Trost, dass manche Dinge beständig sind. Dass das Wasser kommt und geht, Möwen kreischen, auf Regen Sonne folgt. Und dass es noch vernünftige Fischbrötchen gibt.