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Porträt –

Stolpersteine

 

 

AUTOR: KILIAN TROTIER 

FOTOS: GIOVANNI MAFRICI

Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 37

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Zwei Frauen, beide Rentnerinnen, stehen vor einem Haus. Die jüngere ist 62, früher hat sie bei der Telekom gearbeitet, im Kundenservice. Die ältere könnte ihre Mutter sein, fast 86 ist sie, studierte Geschichte, bekam vier Kinder, zog sie groß, war Hausfrau, all die Jahre. Zwei Frauen, beide im Ruhestand, stehen vor einem Haus, in dem sie nicht wohnen, das sie trotzdem kennen. Nicht von innen, nicht die Räume. Aber seine Geschichte. Zwei Frauen stehen vor einem Haus und erzählen, wovon dieses Haus erzählt. „Hier lebte ein Mann“, sagt die Ältere, „sein Leben hat mich so berührt. Er war Künstler, er wollte gar nichts anderes sein. Mit Politik hatte er nichts am Hut. Er hat nicht gemerkt, was auf ihn zukam, konnte sich das nicht vorstellen, überhaupt nicht.“ 


„Dieser Mann“, sagt die Jüngere, „wollte die Welt verändern. Er schrieb 1918 einen Aufsatz, entwarf eine expressionistische Vision, schrieb, dass der neue Mensch die Sprache entfesseln solle, keine Zwänge der Grammatik sollte es mehr geben.“ 

„Dieser Mann“, sagt die Ältere, „kündigte seinen Job, wurde Schriftsteller, heiratete eine jüdische Frau, sie bekamen Kinder. Er wollte nur eins: frei sein.“ 


„Dieser Mann“, sagt die Jüngere, „wurde gedemütigt, wurde deportiert, der Naziarzt behauptete, er sei schizophren und habe ein gespaltenes Bewusstsein. Am Ende wurde er ermordet.“ 


Oswald Pander · JG. 1881 · Deportiert 1942 · Theresienstadt · Ermordet 19.8.1943 steht auf einem kleinen Stein, der in den Boden eingelassen ist. Neben dem Stein liegen sieben weitere Steine vor dem Haus in der Brahmsallee 6. Vor dem Haus, dessen Geschichte Christina Igla, die Jüngere, und Inge Grolle, die Ältere, erforschen. 
„Stolpersteine in Hamburg Grindel I, Hallerstraße und Brahmsallee“, so heißt das Buch, das sie im vergangenen Jahr mit der Landeszentrale für politische Bildung veröffentlichten. Ein Buch, das die Erinnerung an Menschen festhält, die im Nationalsozialismus umkamen. Eine Sammlung von Biografien aus einem Viertel, das das jüdische Kerngebiet der Stadt war. 
Rund 15 Prozent der Einwohner in Harvestehude und Rotherbaum waren Mitte der Zwanzigerjahre Juden. In den übrigen Vierteln der Stadt waren es nicht mal zwei Prozent. Über viele andere Viertel Hamburgs gibt es bereits Bücher, 19 insgesamt. Beim Grindelviertel hat es länger gedauert. Fast die Hälfte der 5000 Stolpersteine in der Stadt liegen in dieser Gegend. Knapp 2500 Biografien sind in diesen Steinen aufbewahrt. 
„Dieser Band ist erst der Anfang“, sagt Christina Igla, „wir haben die Biografien von 90 Menschen recherchiert. Allein in den Vierteln Harvestehude und Rotherbaum gibt es 800 Steine, die noch keine Geschichte haben.“ „Wir hätten gedacht, es würde ein wenig schneller gehen“, sagt Inge Grolle, „aber jede Geschichte braucht ihre Zeit.“ 
Die Brahmsallee ist eine prächtige Straße, direkt hinter dem Bezirksamt Eimsbüttel. Die Lage ist ruhig, aber zentral, die Häuser sind nobel, die Wohnungen haben hohe Decken und Stuck. Es war die jüdische Mittelschicht, die hier wohnte, die um die Ecke ihre Geschäfte hatte, die sich in diesem Viertel zu Hause fühlte. 
Christina Igla hakt Inge Grolle unter, sie machen einen kleinen Rundgang um den Häuserblock. Vorbei an Hausnummer 8, sieben Biografien haben sie hier für ihr Buch recherchiert. Vorbei an Hausnummer 10, vier Biografien. Vorbei an Hausnummer 12, elf Biografien. Vorbei an Hausnummer 14, zwei Biografien. Rüber auf die andere Straßenseite, zu den Neubauten. 
Erinnern kommt nicht von allein. Erinnern ist Arbeit. Christina Igla zieht eine Karte aus ihrer Tasche, zeigt, wie eng die Bebauung hier früher war. Dann kam der Krieg, dann kamen die Bomben, dann wurden die Grindelhochhäuser gebaut, und an der Brahmsallee stehen jetzt hohe, schlichte Zweckbauten. Hausnummern 17 und 19. 


„Früher“, erzählt Christina Igla, „wohnte hier eine Familie Bundheim.“ 
„Ein Nachfahre dieser Familie, der jetzt in Israel lebt, war letztes Jahr für ein paar Tage hier“, erzählt Inge Grolle. „Nathan Ben-Brith heißt er, er hat seinen Namen geändert. Er lief durchs Viertel, über neunzig ist er. Neunmal blieb er an den Orten seiner Kindheit stehen, überall hatten Verwandte gewohnt. Er blieb stehen und sprach ein jüdisches Gebet. Was für eine Stimme er 
hatte! Es war eine Andacht.“ 
Erinnern kommt nicht von allein. Erinnern ist Arbeit. Und manchmal wird sie reich belohnt. Gut vier Jahre lang haben Christina Igla und Inge Grolle recherchiert, zusammen mit einer Kerngruppe von zehn Leuten. Eine ist Soziologin, einer Fluglotse, einer Archivar, einer Anwalt. Eine Sekretärin ist dabei, ein Lehrer, ein Professor. Geld bekamen sie keins, keiner ihrer Verwandten war unter den Opfern. Sie hatten eine andere Motivation: Sie wollten aus abstrakten Zahlen konkrete Geschichten machen, das Schicksal der Menschen aus dem Vergessen ziehen. 
Am Anfang bekamen sie von der Leiterin des Stolperstein-Projekts eine Einführung, an welchen Orten sie Quellen finden können: Das Staatsarchiv ist die wichtigste Anlaufstelle. Es gibt Akten des Oberfinanzpräsidenten, Kultussteuerkarten der jüdischen Gemeinden. Ein anderes wichtiges Dokument ist das Gedenkbuch des Bundesarchivs. Sie fragten auch in Yad Vashem und im Holocaust-Museum in Washington nach, ob die Gedenkstätten über Informationen zu den Hamburger Juden verfügten. 
Alles andere brachte sich die Forschergruppe selbst bei. Christina Igla koordinierte, sie kümmerte sich um Bildrechte, arbeitete mit einer Grafikerin zusammen und machte die Büroarbeit. Inge Grolle recherchierte und schrieb viele der Biografien. Strengen wissenschaftlichen Maßstäben wird das Vorgehen natürlich nicht gerecht. Das kann man kritisieren. Aber wenn diese Privatleute es nicht tun, wer dann? 
Die beiden Frauen biegen rechts in die Hansastraße ein, eine Querstraße zur Brahmsallee, ihr Blick ist auf den Boden gerichtet. Vor jedem Haus liegen Stolpersteine, sie sind nachgedunkelt, verschmutzt, schwer zu lesen. 
„Jacobssohn“, entziffert Christina Igla auf einem. „Manchmal denkt man, den Namen kennt man doch“, sagt sie. „Karoline Bundheim“, steht auf einem anderen. „Das ist die Großmutter, in diesem Haus ist der Nathan Ben-Brith geboren“, sagt Inge Grolle. „Noch haben wir ihre Biografie aber nicht recherchiert, demnächst also mehr zu ihr“, sagt Christina Igla. Sie biegen ab, Parkallee, weitere Stolpersteine, auch die Biografien dieser Menschen sind noch nicht erforscht. Weiter, bis in die Hallerstraße, die Grenze zwischen Harvestehude und Rotherbaum. 

 

Welche Biografie sie hier besonders bewegt hat? 
„In der Nummer 64, da schräg gegenüber, arbeitete ein Rechtsanwalt, er hieß Edgar Fels“, erzählt Christina Igla. „Der hat mich beeindruckt, weil er nie klein beigab. Er wurde zweimal verhaftet, aus völlig absurden Gründen. Einmal, weil er Taxi gefahren ist und das als Jude nicht durfte. Und einmal, weil er auf einem Dokument nicht den Zusatznamen Israel geschrieben hat.“ „Dann wurde er nach Łód´z ins Getto deportiert“, erzählt Inge Grolle, „und hat auch dort weitergearbeitet, hat Menschen Rechtsberatung angeboten, die dafür gar nichts mehr zahlen konnten. Am Ende ist er verhungert.“ 

 

Die beiden Frauen überqueren die Straße und treten vor das Haus, verschnörkelte Fassade, kleine Säulen umrahmen die Fenster, der Pfad von der Straße bis zur Tür ist gesäumt von hohen Büschen. Sie betrachten das Haus und stellen sich vor, wie der Anwalt darin arbeitete, wie er Klienten empfing, wie er heraustrat und zum Gericht eilte, wie das alles irgendwann verboten war, wie man ihn schikanierte, wie er verhaftet wurde. 
Oswald Pander, Familie Bundheim, Edgar Fels. Warum ist es den beiden Frauen so wichtig, die Biografien einzelner Menschen zu erforschen? 
„Es geht um Empathie“, sagt Inge Grolle. „Nur wenn ich etwas über eine Person weiß, kann ich mich in sie einfühlen. Und es geht um Routine, denn die darf es niemals geben.“ 
„Ich sehe die Stadt mit anderen Augen“, sagt Christina Igla. „Meine erste Begegnung mit den Stolpersteinen war in der Isestraße. Ich habe mir das Buch über die Straße gekauft, bin an einem Sonntag dorthin gefahren, habe mir die Stolpersteine angesehen, dann die Biografien der Menschen gelesen. Das prägt. Wenn ich höre, was dieser Björn Höcke von der AfD jetzt erzählt …“ Igla beendet den Satz nicht. Inge Grolle nickt, wortlos.

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